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       # taz.de -- Sheila Hetis Buch „Mutterschaft“: Dann wirft sie wieder eine Münze
       
       > Mutterschaft oder Kunst – schließt sich das aus? Das Buch „Mutterschaft“
       > von Sheila Heti ist das Dokument einer Suche und Selbstbefragung.
       
   IMG Bild: Sind künstlerische Mütter nur als Kunstwerk? Ein Mann vor der Skulptur „Mother“von Bharti Kher
       
       Wenn die Tragweite einer Entscheidung enorm scheint, eine dabei
       existenziell auf sich selbst zurückgeworfen ist und nicht ein noch aus
       weiß, müssen manchmal eigenwillige Maßnahmen her. Münzen als
       Entscheidungshilfe zu befragen, ist so eine Maßnahme – vielleicht nicht
       gerade, um sich sklavisch an die Antworten zu klammern, aber doch, um
       zumindest das eigene Denken und Fühlen herauszufordern.
       
       Die namenlose Erzählerin der Autorin Sheila Heti entlehnt die bevorzugte
       Methode dem I-Ging, einem 3.000 Jahre alten chinesischen Orakel, fragt
       sehnsuchtsvoll, lustig und verwirrt und wirft drei Geldstücke. Mehr Kopf
       als Zahl heißt Ja, mehr Zahl als Kopf heißt Nein. Antworten die Münzen
       anders als erhofft, führt das entweder dazu, das zu merken – oder sich mit
       der anderslautenden Antwort auseinanderzusetzen.
       
       „Soll ich mit Miles ein Kind bekommen? nein. Soll ich überhaupt ein Kind
       bekommen? ja. Soll ich also Miles verlassen? nein. Soll ich eine Affäre mit
       einem anderen Mann haben, während ich mit Miles zusammen bin, und das Kind
       als Miles’ Kind aufziehen, indem ich ihn über die Vaterschaft täusche? ja.
       Ich finde, das ist keine gute Idee.“
       
       Das ist, worum es zunächst geht in Sheila Hetis Buch „Mutterschaft“, das
       gerade auf Deutsch erschienen ist: eine Auseinandersetzung mit der Frage,
       ob die Erzählerin in ihren späten 30ern ein Kind bekommen soll. Wie sie das
       Orakel infrage stellt, stellt Heti auch das große Ganze infrage: Woher
       kommt die Bedeutung in unserem Leben? Welche Rolle schreiben wir Frauen zu,
       ob mit Kind oder ohne? Was gibt uns existenzielle Befriedigung? Und wie
       individuell und selbstbestimmt können Entscheidungen sein, die doch immer
       eingebettet sind in unsere Familiengeschichte und Kultur?
       
       ## Rollenvorstellungen der Mutterfigur über den Haufen werfen
       
       Fragen wie diese, die erst gestellt werden, weil tradierte
       Rollenvorstellungen der Mutterfigur über den Haufen geworfen und dabei
       Möglichkeiten eröffnet, zum Teil aber auch Abgründe aufgeschüttet wurden,
       sind derzeit Gegenstand einer ganzen Welle von Büchern: Ariel Levys „Gegen
       alle Regeln“, Orna Donaths „Regretting Motherhood“, das kleine, feine
       „Nicht nur Mütter waren schwanger“, herausgegeben von Alisa Tretau.
       
       „Mutterschaft“ dreht sich nun um eine einzelne, irreversible Entscheidung
       der Erzählerin. Und darum, was Mutterschaft oder Nicht-Mutterschaft in der
       westlichen Welt heute bedeuten können und wie sie besetzt sind. „Eine nicht
       mit Kindern beschäftigte Frau hat etwas Bedrohliches“, schreibt die
       Erzählerin etwa. „Was wird sie stattdessen machen? Was für einen Ärger?“
       
       Drei Jahre dauert die Erkundung der Gefühle und Gedanken, der Münzen und
       diverser anderer Entscheidungshilfen wie Tarotkarten und Traumdeutung. Auf
       ihrer Suche nach Antworten zitiert die Protagonistin die Bibel und Walter
       Benjamin, führt Gespräche mit FreundInnen, nimmt Kunstgeschichte und
       Antidepressiva zur Hilfe.
       
       ## Ein Mindfuck
       
       Einen Plot im eigentlichen Sinn gibt es nicht, vielmehr besteht die
       Handlung aus der Niederschrift kreisender Gedanken und tagebuchartigen
       Aufzeichnungen, die sich auch mal nach dem Zyklus der Protagonistin und
       ihren Stimmungsschwankungen richten: „Vor dem Eisprung“ wird ein Kapitel
       überschrieben oder „PMS“: „So viele Gefühle an einem Tag. Das sind
       eindeutig nicht die Leitlinien, nach denen man sein Leben ausrichten
       sollte.“ Es ist ein Mindfuck, den Heti da aufgeschrieben hat – aber einer
       vom Feinsten.
       
       Ohne weiteres könnte die Erzählerin Heti selbst sein, weshalb die Grenze
       zwischen Autobiografie und fiktionaler Literatur flirrt: Sie ist eine Frau
       in ihren späten 30ern, sie raucht und lebt mit ihrem Freund, einem Anwalt,
       in Toronto.
       
       Überdies stammt sie aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden, was die
       Kinderfrage nicht nur im Hinblick auf die eigene Existenz belastet: „Ich
       weiß, dass von jüdischen Frauen erwartet wird, dass sie die durch den
       Holocaust erlittenen Verluste produktiv ausgleichen: Wenn du keine Kinder
       bekommst, haben die Nazis doch gewonnen.“ Und auch eine Notiz, die dem Buch
       vorangestellt ist und besagt, dass alle Empfehlungen der wieder und wieder
       befragten Münzen real sind, legt nahe, dass Heti und ihre Erzählerin
       zumindest dieselbe Realität teilen.
       
       ## International gefeiert
       
       Für Sheila Heti besteht diese auch daraus, als Autorin, Dramatikerin und
       Journalistin durchaus Starstatus erlangt zu haben: Sie schreibt für den New
       Yorker und die New York Times, die sie unter den 15 bedeutsamsten
       Autorinnen listete, die aufzeigen, wie wir im 21. Jahrhundert lesen und
       schreiben werden. Die englischsprachige Originalausgabe von „Motherhood“
       wurde vom New York Magazine als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet, auch
       ihr Vorgängerroman „Wie sollten wir sein?“, der ähnlich an Genregrenzen
       kratzte, wurde international gefeiert.
       
       Und auch darum geht es nun: um die Frage, wie sich Mutterschaft und Kunst
       zueinander verhalten, ob die Rolle der Schriftstellerin eine
       gleichberechtigte Alternative zu der der Mutter sein kann und als solche
       akzeptiert wird. „Meine gläubige Cousine, die genauso alt ist wie ich, hat
       sechs Kinder“, stellt Hetis Protagonistin fest. „Ich habe sechs Bücher.“
       
       „Motherhood“ ist eine Selbstfindung auf mehr als 300 Seiten, eine
       Vorbeugungsmaßnahme, wie es im Buch heißt, gegen eine Enttäuschung. So oder
       so wird aus dem Prozess des Suchens und Sich-Befragens etwas hervorgehen:
       ein Kind – oder ein siebtes Buch.
       
       16 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patricia Hecht
       
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