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       # taz.de -- Sicherheitspaket der Ampel: Wer ist hier gefährdet?
       
       > Bundesregierung und Opposition fordern eine Verschärfung des Asylrechts.
       > Die Sicherheit von Schutzsuchenden gerät aus dem Blick.
       
   IMG Bild: Die Gemeinschaftsunterkunft in Obermehler, 2016. „Heute sieht es hier deutlich heruntergekommener aus“, sagen Hasan und Nadim
       
       Jena taz | Schrauben aus Titan stabilisieren die Wirbel, die sich Hasan*
       beim Sprung aus dem vierten Stock der Sammelunterkunft gebrochen hat. Das
       Gehen fällt noch schwer, ohne seinen Rollator schafft er gerade mal ein
       paar Schritte.
       
       Der junge Asylbewerber liegt im Bett einer kleinen Wohnung, die
       Aktivist:innen für ihn organisiert haben, mitten in der Altstadt von
       Jena. Anfang Oktober ist die Luft eisig, beim Ausatmen bilden sich kleine
       Dampfwolken vor dem Mund. Freunde von Hasan kochen Tee in einer goldenen
       Kanne, verteilen unterschiedlich große Gläser. Die Einrichtung ist
       zusammengewürfelt, das meiste kommt vom Sperrmüll. Auf dem Nachttisch
       stapeln sich Schmerzmittel, die der 30-Jährige seit Wochen mehrmals täglich
       einnehmen muss.
       
       „Jede Nacht träume ich vom Fallen“, erzählt Hasan. Sein Gesicht ist blass,
       seine Bewegungen sind vorsichtig. Er trägt einen langen dunklen Bart, ist
       dünn und still. Nur in wenigen Momenten blitzt ein anderer Hasan durch.
       Einer, der mit seinen Freunden herumalbert, und sie mit dem Greifarm
       ärgert, den er aus dem Krankenhaus bekommen hat. Doch schnell versinkt er
       wieder in sich.
       
       Während er im Tee rührt, erzählt der junge Mann von der Angst, die ihn seit
       Monaten zermürbe und ihn schließlich zum riskanten Fluchtversuch aus dem
       vierten Stock getrieben habe: die Angst vor seiner Abschiebung.
       
       ## Parteien überbieten sich mit harten Forderungen
       
       Die migrationspolitische Debatte in Deutschland spitzt sich seit Monaten
       zu. Opposition und Ampelparteien überbieten sich insbesondere seit den
       islamistischen Anschlägen [1][in Mannheim] (Mai) und [2][Solingen] (August)
       mit harten Forderungen. Das sogenannte Sicherheitspaket der Regierung, das
       der Bundestag am Freitag verabschiedet hat, sieht eine ganze Reihe von
       Maßnahmen vor: mehr Grenzkontrollen, weniger Geld für Asylsuchende, eine
       härtere Abschiebepraxis, erweiterte Befugnisse für die Polizei. Der
       Bundesrat billigte einige der Maßnahmen, [3][lehnte allerdings andere ab].
       
       Die neue Asylpolitik zeigt sich schon jetzt in Zahlen: Im ersten Halbjahr
       2024 wurden 9.465 Personen in Nicht-EU-Staaten abgeschoben – etwa 20
       Prozent mehr als noch im Vorjahreszeitraum. Weitere 3.043 Menschen wurden
       per Dublin-Verfahren in EU-Länder abgeschoben.
       
       Der [4][frühere Grünenpolitiker Tareq Alaows], der heute als Sprecher von
       Pro Asyl arbeitet, nennt das neue Ampelgesetz ein „Unsicherheitspaket“,
       denn es lasse die Sicherheit von Asylsuchenden völlig außen vor. „Das
       Gesetz schafft das letzte bisschen Menschenwürde ab, das Geflüchteten
       geblieben ist“, sagt Alaows.
       
       ## Eine bedrohliche Debatte
       
       Woher genau Hasan kommt, möchte er nicht öffentlich machen. Nur so viel:
       Aus Deutschland wird bisher nicht in sein Heimatland abgeschoben. Der junge
       Mann ist, wie viele andere, in Deutschland geduldet. Das bedeutet, dass er
       zwar offiziell ausreisepflichtig ist, weil sein Asylgesuch abgelehnt wurde,
       in der Praxis aber nicht abgeschoben wird. Ob das so bleiben wird, ist
       unklar. Denn längst wird gefordert, Menschen auch in Hasans Heimatland
       abzuschieben. Bei einer Rückkehr, so fürchtet Hasan, würden ihm Haft und
       Folter drohen.
       
       Jenny Baron ist Psychologin und Sprecherin der Bundesweiten
       Arbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer.
       Sie sagt: „Für viele unserer Patient:innen ist die Abschiebedebatte
       extrem bedrohlich.“ Der feindselige öffentliche Diskurs spiegele sich im
       alltäglichen Leben Geflüchteter wider und [5][verstärke das Gefühl, dem
       Land zur Last zu fallen]. So komme es bei Betroffenen zu einem massiven
       Vertrauensverlust. „Selbst wenn Geflüchtete einen gesicherten
       Aufenthaltsstatus haben, fragen sich viele inzwischen: Was ist dieser noch
       wert? Bin ich der nächste, der abgeschoben wird?“
       
       Nach einer Weile beginnt Hasan von der Nacht Anfang September zu erzählen,
       in der er den Fluchtversuch aus der Sammelunterkunft in Obermehler, etwa
       anderthalb Autostunden von Jena entfernt, unternahm. „Um vier Uhr morgens
       habe ich gehört, wie die Wagen von Polizei und Ausländerbehörde vorgefahren
       sind. Es war noch dunkel draußen.“ Gerade habe er sich auf sein Morgengebet
       vorbereiten wollen und seinen kleinen weißen Gebetsteppich gen Mekka
       ausgerichtet. Er sei hochgeschreckt, sein Herz habe angefangen, schneller
       zu schlagen. Plötzlich habe er einen der Beamten „107“ sagen hören – seine
       Zimmernummer. Dann Schlüsselklappern. „Alles was du fühlst ist Angst,
       Angst, Angst.“
       
       Danach sei alles sehr schnell gegangen. Hasan sagt, er habe den Balkon
       betreten, sei auf das Geländer gestiegen und ohne darüber nachzudenken
       gesprungen.
       
       ## Konfrontation mit Uniformierten kann Panik auslösen
       
       „Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, wie ich im Krankenwagen
       aufgewacht bin.“ Eine komplizierte Operation an der Wirbelsäule und drei
       Wochen im Krankenhaus folgten. Aktivist:innen halfen Hasan dabei, einen
       sogenannten Umverteilungsantrag zu stellen, der ihm erlauben soll, in Jena
       zu bleiben, um gesund zu werden. Eine Entscheidung dazu steht noch aus.
       Inzwischen ist aber klar: Die Beamten kamen in besagter Nacht wohl nicht,
       um Hasan abzuschieben. „Dass das beim nächsten Mal nicht anders ist, kann
       mir niemand garantieren“, sagt er.
       
       Psychologin Jenny Baron sieht die Vorgehensweise bei Abschiebungen sehr
       kritisch: „Die Konfrontation mit Uniformierten kann gerade bei Menschen,
       die traumatische Erfahrungen in Haft gemacht haben, extreme Panik
       auslösen.“ Dass Beamten unangekündigt und meist nachts kämen, sei
       hochproblematisch.
       
       Die weite Entfernung zum nächsten Flughafen rechtfertige nächtliche
       Abholungen zu Abschiebungen, schreibt der Migrationsfachdienstleiter des
       Unstrut-Hainich-Kreises, in dem Obermehler liegt, auf taz-Anfrage. Jenny
       Baron argumentiert dagegen: Nicht nur für akut Betroffene könne eine
       nächtliche Abschiebung extrem belastend sein. „Wenn nachts Türen
       eingeschlagen werden und Freunde aus der Unterkunft am nächsten Tag
       plötzlich weg sind, greift das tief in das Sicherheitsgefühl der Menschen
       ein.“
       
       Seit Februar dürfen Polizist:innen auch ohne richterlichen Beschluss in
       Zimmer von Unbeteiligten eindringen, die in Sammelunterkünften leben. Baron
       zufolge führe das dazu, dass nicht nur tatsächlich von Abschiebung bedrohte
       Menschen eine solche fürchteten, sondern nahezu alle Geflüchteten.
       
       ## Ein neuer Ton in Thüringen
       
       Tareq Alaows von Pro Asyl sagt: „Die immer lauter werdenden Forderungen
       nach mehr Abschiebungen, setzen die Kommunen massiv unter Druck.“ Dies
       führe dazu, dass Landkreise ihre Abschiebepraxis verhärteten und häufiger
       Fehlentscheidungen treffen würden.
       
       Ein Freund von Hasan, der noch immer in Obermehler lebt, bestätigt diese
       Darstellung. Nadim* trägt einen Schnurrbart und kleine Tattoos, verstreut
       auf dem ganzen Körper. Den Namen seiner Geliebten hat sich der 23-jährige
       Syrer gleich an zwei Stellen verewigen lassen, daneben ein kleines Herz.
       
       Seit einigen Wochen kämen immer häufiger Beamte in die Sammelunterkunft in
       Obermehler und gingen immer weniger respektvoll mit den dort lebenden
       Asylsuchenden um. Die Rede ist auch von körperlicher Gewalt, die
       Polizist:innen gegenüber Asylsuchenden anwendeten.
       
       Das zuständige Landratsamt widerspricht. Fälle von physischer Gewalt bei
       Abschiebungen seien nicht bekannt, schreibt die Behörde auf Anfrage der
       taz. Auch der Migrationsfachdienstleiter des Unstrut-Hainich-Kreises
       beteuert, man habe die Abschiebepraxis im Landkreis nicht verändert.
       
       ## Wie Kühe, die neben der Unterkunft grasen
       
       „Seitdem die AfD die Wahlen gewonnen hat, hat sich der Ton in Thüringen
       verändert“, erzählt Nadim. Er berichtet von Busfahrern, die ihn trotz
       gültigem Ticket aus dem Bus werfen und rassistischen Beleidigungen auf
       offener Straße. Dazu komme die isolierte Lebenssituation vieler
       Aslysuchender. Die Sammelunterkunft in Obermehler liegt knapp 20 Kilometer
       vom nächsten größeren Ort, Mühlhausen, entfernt. Viermal täglich fahre ein
       Bus, erzählt Nadim. „Wir sind wie die Kühe, die neben der Unterkunft grasen
       – gefangen in Obermehler“, sagt er.
       
       „Solch isolierte Wohnsituationen können sich extrem negativ auf die
       psychische Gesundheit Geflüchteter auswirken“, sagt Psychologin Baron.
       Außerdem blieben so Rechtsverletzungen bei Abschiebung häufig unter dem
       Radar. Aus Mangel an Ressourcen könnten Geflüchtete kaum auf ihre Notlage
       aufmerksam machen.
       
       „In letzter Zeit verstecken wir uns nachts oft draußen“, sagt Nadim. Auch,
       wenn es regne und sehr kalt werde. „Ich lasse mich auf keinen Fall nochmal
       abschieben.“
       
       ## Die Narben bleiben
       
       Denn eine Abschiebung nach Polen hat Nadim schon hinter sich. Er krempelt
       den Ärmel seiner dunkelblauen Übergangsjacke hoch und zeigt die tiefen
       weißen Narben, die seinen Arm zeichnen. „Von den Stiefeln der polnischen
       Polizisten“, erklärt er. Immer wieder dringen Berichte von Polizeigewalt
       und systematischen Menschenrechtsverletzungen aus polnischen Haftanstalten,
       in denen viele Asylsuchende landen.
       
       Nadim schaffte es mit viel Glück zu entkommen und die Grenze zu Deutschland
       zu überqueren, wie er berichtet. Eines der Tattoos auf seinem Körper ist
       ein Satz auf Arabisch, er lautet: Auch wenn ich ins Wanken gerate, falle
       ich nicht.
       
       Inzwischen engagiert sich Nadim in einem neuen Thüringer
       Geflüchtetennetzwerk. Bei entsprechenden Treffen tauscht er sich mit
       anderen Geflüchteten und Aktivist:innen aus. Gemeinsam sammeln sie
       Spenden und organisieren rechtliche und psychologische Beratung für
       Asylbewerber:innen. Es ist der Versuch, die Isolation zu durchbrechen und
       sich den Schutz zu suchen, den er braucht. Im Netzwerk hat er
       Aktivist:innen kennengelernt, mit deren Hilfe es gelang, Kirchenasyl
       für ihn zu sichern. Doch auch das bietet keinen garantierten Schutz mehr:
       Erst kürzlich wurde der Fall eines 29-jährigen Afghanen bekannt, der trotz
       Kirchenasyl aus Hamburg abgeschoben wurde.
       
       Nadim setzt sich an Hasans Bett und schenkt heißen Tee nach. Die beiden
       sind durch die Vernetzung mit Aktivist:innen sicherer als noch vor
       einigen Wochen und stützen sich gegenseitig. Doch die Narben auf ihrer Haut
       werden bleiben.
       
       * Die Namen wurden aufgrund der prekären Situation der beiden geändert.
       
       19 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] /Ex-Gruener-zum-Austritt-wegen-Asylpolitik/!5981460
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