URI: 
       # taz.de -- „Sie ist eine neue Belgierin“
       
       > Nafissatou Thiam, Weltmeisterin im Siebenkampf, beginnt bei der
       > Europameisterschaft ihren Wettkampf nicht mit der gewohnten Leichtigkeit.
       > Das Erstaunlichste ist jedoch ihre Unbeirrbarkeit
       
   IMG Bild: Immer entspannt: Thiam in einer Wettkampfpause
       
       Aus Berlin Alina Schwermer
       
       Große Gesten, das ist nicht so ihr Ding. Vorher, als sie in morgendlicher
       Hitze die Athletinnen vorstellten und ein Raunen auf den Namen Thiam
       folgte, da winkte sie schüchtern lächelnd, einmal ganz kurz. Aber was für
       Auftritte. Nafissatou Thiam, 23 Jahre alt, ist amtierende Olympiasiegerin
       im Siebenkampf, amtierende Weltmeisterin, ein Wahnsinnstalent. Als
       Favoritin ging die Belgierin auch in den Siebenkampf. Die Zeit von Nafi
       Thiam in ihrer Paradedisziplin, Hochsprung, kommt, wenn die Reihen der
       Konkurrenz ausgedünnt sind. In diesen wilden Momenten, wo eine nach der
       anderen die Latte reißt, die Siebenkämpferinnen zeigen, dass sie eben
       Siebenkämpferinnen sind und keine Hochspringerinnen. Sie steigt bei 1,85
       Metern ein und überwindet sie spielend. Die 1,91 ebenso federleicht.
       
       Aber diesmal nicht ganz so mühelos wie sonst. Den Hochsprung beendet
       Nafissatou Thiam mit einer für sie enttäuschenden Höhe, sie reißt bei 1,94
       Metern. Im Hürdenlauf, was sie eh nicht gern tut, kam sie als Achte ins
       Ziel, verschmerzbar, aber das frühe Scheitern im Hochsprung bremst
       empfindlich. Vielleicht wird es also nur Silber oder Bronze am Ende,
       vielleicht wird es auch mal Zeit, durchzuatmen. Zu begreifen, was da mit
       ihr passiert.
       
       Künftig gibt es Nafissatou Thiam auch an der Fassade des Stadthotels von
       Namur. Da wird sie unter anderem an der Seite des Marsupilami aus der
       Comicserie Spirou und Fantasio, an der Seite von Schlumpfine und dem
       wallonischen Hahn hängen, als Teil eines etwas skurrilen Werks namens
       „Fresko der Wallonen“. In Belgien gibt es in der Leichtathletik seit zwei
       Jahren fast nur Thiam, diese junge Überfliegerin, die das seit der
       Fußball-WM ohnehin geschwellte nationale Sport-Ego sanft noch weiter
       streichelt.
       
       Die 23-Jährige ist seit zwei Jahren konstant an der Weltspitze. Sie sagt.
       „Ich will alles, was mir passiert, genießen. Ich weiß nicht, bis wohin ich
       gehen kann. Aber wenn es morgen vorbei wäre, würde ich das akzeptieren.“
       Nafi Thiam hat den Mut, Schwächen einzuräumen. „Ehrlich gesagt hatte ich
       nach Rio viele Zweifel. Ich dachte: Vielleicht habe ich mein Maximum
       erreicht. Und für ein paar Monate wusste ich nicht, wohin.“
       
       Thiam, Tochter einer Belgierin und eines Senegalesen, ist in Brüssel
       geboren. Als die Eltern sich trennten, kehrte der Vater in den Senegal
       zurück, während die Mutter, Danièle Denisty, vier Kinder allein großzog.
       Die Familie zog in ein Dorf, wo es sonst keine dunkelhäutigen Kinder gab.
       Nafi Thiam kam von der Schule zurück und sagte: „Mama, die anderen Kinder
       nennen mich die Schwarze. Aber ich bin doch gar nicht schwarz, ich bin doch
       braun.“ Sie akzeptieren die Neue auf etwas unbeholfene Art: Als sie ihre
       ersten Medaillen holt, werfen ihr Kinder Zeichnungen in den Briefkasten.
       Die lacht über die schlecht gemalten Dreadlocks. Heute sagt ihre Mutter:
       „Nafi ist hier geboren, zur Schule gegangen, ausgebildet. Sie ist eine neue
       Belgierin, wie Vincent Kompany.“
       
       Ihre Unbeirrbarkeit ist mit das Erstaunlichste. Bei Olympia setzte sich die
       Belgierin als 21-Jährige gegen Konkurrenz wie Jessica Ennis-Hill oder
       Brianne Theisen-Eaton durch, frei, frisch, vom dankbaren Sprungbrett
       fehlender Erwartungshaltung. Ein Jahr später, bei der WM in London, da
       hatte sie den Druck, da holte sie wieder Gold. Thiam hat als erste
       Siebenkämpferin innerhalb eines Mehrkampfes die Zwei-Meter-Marke beim
       Hochsprung überwunden, sie hat 2017 in Götzis als vierte Frau überhaupt die
       7.000-Punkte-Bestmarke geknackt. Sie gilt als Anwärterin auf einen neuen
       Weltrekord. Der aktuelle stammt von 1988, von der großen US-Amerikanerin
       Jackie Joyner-Kersee. Nicht weniger als die Goldmedaille erwarten ihre
       Landsleute.
       
       Thiam selbst sieht das alles bodenständiger. Einmal erzählte sie die
       Geschichte vom Marmeladenglas. Bei ihrem ersten Leichtathletikwettkampf,
       den sie gewann, habe sie ein paar Gläser Marmelade bekommen. Weil sie
       Marmelade sehr liebte, habe sie also mit dem Sport weitergemacht. Marmelade
       bekam Thiam nie wieder als Preis.
       
       10 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Schwermer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA