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       # taz.de -- Signal-Chefin Meredith Whittaker: „Privatheit würde es nicht mehr geben“
       
       > Bedeutet Chatkontrolle das Ende der Privatsphäre? Meredith Whittaker,
       > Präsidentin der Signal-Stiftung, über die Gefahren und individuelle
       > Verantwortung.
       
   IMG Bild: Unsere Daten: das Lebenselixier der Tech-Konzerne
       
       taz: In den USA und auch in der EU schwächen Regierungen Regeln für
       Tech-Konzerne ab, für mehr Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig setzen
       Nutzer:innen bei der Auswahl ihrer Apps eher auf Bequemlichkeit als auf
       Datenschutz. Warum verliert das Konzept von Privatsphäre im Internet gerade
       an Beliebtheit? 
       
       Meredith Whittaker: Ich glaube nicht, dass Datenschutz und Privatsphäre im
       Netz an Beliebtheit verlieren. Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen:
       Reisen, eine sinnstiftende Arbeit haben, Freizeit, die man mit seinen
       Liebsten verbringen kann – all das sind Dinge, die wahrscheinlich bei den
       meisten Menschen sehr beliebt sind. Aber es ist nicht immer möglich, sie
       umzusetzen, weil das System und die Strukturen, in denen wir leben, das
       nicht für alle erlauben. Dass Datenschutz weiterhin beliebt ist, zeigen die
       enormen Geldmengen, die viele der großen Tech-Konzerne investieren, um sich
       im Marketing als Privatsphäre-freundlich zu zeigen. Apple macht das schon
       lange, aber auch Meta, etwa mit Whatsapp. Ich denke: Viele Menschen wollen
       sich nicht großartig Gedanken über Daten und ihren Schutz machen. Aber
       instinktiv wollen sie Technologien nutzen, ohne überwacht und getrackt zu
       werden.
       
       taz: Was folgt daraus? 
       
       Whittaker: Wir leben in einer Welt, in der das Überwachen von
       Nutzer:innen und das Sammeln von persönlichen Daten der ökonomische
       Motor der Tech-Industrie ist. Und diese Industrie ist das Nervensystem
       unserer modernen Wirtschaft und Staaten geworden, unseres politischen und
       sozialen Lebens. Wir leben also in einem Widerspruch zwischen unserem Wert,
       der Unverletzlichkeit des Privaten, und der Praxis, in der eine Handvoll
       Konzerne aus unseren persönlichen Informationen Geld macht – und die damit
       natürlich null Interesse daran haben, uns die Kontrolle über unsere Daten
       zu geben.
       
       taz: Was sehen Sie derzeit als größte Bedrohung für die Privatheit? 
       
       Whittaker: Oh, da gibt es einige. Neben dem grundsätzlichen Geschäftsmodell
       der Big-Tech-Konzerne, dem Privatheit diametral entgegensteht, gibt es auch
       legislative Vorhaben, [1][wie die Chatkontrolle].
       
       taz: Mit der wollen die EU-Staaten Anbieter von Messenger- und
       Cloud-Diensten dazu bringen, die Kommunikation ihrer Nutzer:innen zu
       überwachen. 
       
       Whittaker: Genau, das würde eine starke Verschlüsselung aushebeln oder
       umgehen und vertrauliche digitale Kommunikation für Privatleute praktisch
       unmöglich machen. Eine weitere große Bedrohung sind [2][KI-Agenten].
       
       taz: Tech-Konzerne vermarkten KI-Agenten gerade als das nächste große Ding. 
       
       Whittaker: Ja, auch wenn die Realität momentan noch nicht da ist, wo die
       Tech-Industrie sie gerne hätte.
       
       taz: Wo soll es denn hingehen? 
       
       Whittaker: Mit KI-Agenten würden wir die Welt genau so sehen, wie die
       Tech-Konzerne das von uns möchten. Sie sollen eine Art Robo-Butler sein und
       unser Leben wahnsinnig bequem machen. Wir wollen jemandem auf ein Date
       treffen? Der KI-Agent sucht einen geeigneten Ort heraus, der für beide
       passt, einen Termin, die Verkehrsverbindung dorthin, macht eine
       Reservierung im Restaurant und verschickt das Ergebnis dann an die
       Teilnehmenden. Vielleicht schlägt das System noch ein Outfit vor und
       erinnert an den Regenschirm. Für all das ist der Zugriff auf enorme
       Datenmengen und Apps nötig: auf unseren Kalender, unseren Standort, unsere
       Kommunikations-Apps. Es braucht Daten über unsere Vorlieben, was Essen oder
       Abendaktivitäten angeht und unsere Shopping-Historie. Und das natürlich,
       ohne ständig um Erlaubnis zu fragen für den Zugriff. Gruselig? Absolut. Ein
       existenzielles Problem für Privatheit? Auf alle Fälle. Und außerdem noch
       ein Weg, auf dem die jetzt schon dominanten Tech-Konzerne ihre
       Marktposition weiter verfestigen. Denn die Qualität dieser Dienste steht
       und fällt mit der Menge der Daten, die sie auswerten können
       
       taz: Was würde das für die Gesellschaft bedeuten, für das Zusammenleben? 
       
       Whittaker: Im Detail ist das schwierig vorherzusagen. Aber grundsätzlich
       kann man davon ausgehen: Privatheit, wie wir sie kennen, würde es nicht
       mehr geben. Das würde vermutlich zu chilling effects in unserer digitalen
       Kommunikation führen.
       
       taz: Chilling effects sind ein wissenschaftlich untersuchtes Phänomen,
       wonach zunehmende Überwachung dazu führen kann, dass Menschen sich nicht
       mehr trauen, von ihren Grundrechten Gebrauch zu machen. 
       
       Whittaker: Wir würden die Grenzen des Vorstellbaren und des Diskutierbaren
       nach und nach immer weiter verengen. Das ist eine schreckliche Vorstellung.
       Vor allem, weil wir in einer Welt leben, in der sich gerade so viel
       verändern müsste, denken wir etwa an den Klimawandel. Und in der es so
       wichtig ist, sich unterschiedliche Möglichkeiten vorzustellen, wie die
       Zukunft sein könnte oder sich ein Problem lösen ließe – ohne immer gleich
       in alten Strukturen oder Sachzwängen gefangen zu sein.
       
       taz: Seitdem Donald Trump wieder US-Präsident ist, macht man sich in Europa
       mehr Gedanken über digitale Souveränität. Sie vertreten mit Signal einen
       Messenger-Dienst, der zwar open source ist und auf starke Verschlüsselung
       setzt, aber dennoch aus den USA kommt. Wie sehen Sie diese Debatte? 
       
       Whittaker: Nach meinem Eindruck kommt die Überlegung, dass digitale
       Souveränität doch ganz wichtig wäre, reichlich spät. Im Neoliberalismus
       fließt das Geld ganz wunderbar, und das hat anscheinend bisher gereicht, um
       die Politik ruhigzustellen. Da hat man dann lieber nicht genau nachgefragt,
       was für Code eigentlich in einer Plattform steckt und was die
       gesellschaftlichen Effekte sind. Die eigentliche Frage ist: Warum haben wir
       so wenigen privaten Konzernen so viel Macht über kritische Infrastruktur
       gegeben? Konzernen, deren Geschäftsmodell auf Überwachung beruht? Das
       müssen sich Regierungen fragen – und zwar nicht nur in Europa, sondern
       weltweit.
       
       taz: Was wäre denn der erste Schritt, um das zu ändern? 
       
       Whittaker: Es gibt viele erste Schritte, die man gehen könnte. Der erste
       wäre: Hört auf, Bullshit zu machen. Die ganzen Gigafabriken und die
       angeblich souveräne Microsoft Cloud – das ist doch alles Quatsch.
       
       taz: Das sind beides Dinge, die die deutsche Bundesregierung anstrebt
       beziehungsweise schon umsetzt… 
       
       Whittaker: Sie sind leider nicht die Einzigen, die sich da etwas vormachen.
       Also: Wollen wir eine Welt mit offenen Technologien, mit sicheren
       Kommunikationsmitteln, mit einem gesunden Medien-Ökosystem, das eine gute
       Basis für eine demokratische Meinungsbildung bietet? Dann müssen wir das
       fördern.
       
       taz: Signal hat vor zwei Jahren seine Kalkulation offengelegt und
       prognostiziert, dass der Betrieb in diesem Jahr 50 Millionen US-Dollar
       kosten wird. Sind Sie schon da? 
       
       Whittaker: Ja. Und weil wir dieses Geld eben nicht aus Werbung generieren
       und aus Nutzerdaten, wie es Big Tech macht, müssen wir andere Wege finden.
       
       taz: Sie setzen auf Spenden. Funktioniert das? 
       
       Whittaker: Ja, mit großen und kleinen Spenden können wir unsere Ausgaben
       decken, wir sind nicht in Schwierigkeiten. Aber wir versuchen trotzdem,
       nicht stehenzubleiben, denn Spenden können mal höher und mal niedriger
       ausfallen. Derzeit arbeiten wir an einer Premium-Back-up-Funktion, die – im
       Gegensatz zum restlichen Messenger – Geld kostet.
       
       taz: Welche Verantwortung tragen die Nutzer:innen? 
       
       Whittaker: Die fossile Industrie hat das Konzept des ökologischen
       Fußabdrucks erfunden, um die Verantwortung auf die Individuen abzuschieben.
       Momentan sehen wir die gleiche Entwicklung bei der Tech-Industrie, die die
       Verantwortung auf die Nutzer:innen schiebt. Ganz häufig haben wir aber
       keine Wahl, ob wir Datenschutz wollen oder nicht. Du willst diesen Job?
       Dann musst du diese Plattform nutzen, um dich zu bewerben oder auf dich
       aufmerksam zu machen. Du möchtest jemanden kennen lernen? Dann wird das
       deutlich schwieriger ohne diese App. Du willst in Kontakt mit deinen
       Freund:innen sein? Tja, die sind alle auf jener Plattform. Du gehst zur
       Schule? Die nutzt ein Microsoft-Office-Paket samt Cloud. Oder iPads. Oder
       die Google Cloud. Das zeigt: In unserer westlichen Welt ist
       gesellschaftliche Teilhabe viel zu stark daran geknüpft, dass man die
       Dienste der mächtigsten Tech-Konzerne nutzen muss.
       
       10 Oct 2025
       
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