URI: 
       # taz.de -- Singvogel in Kultur und Wissenschaft: Berlin, Hauptstadt der Nachtigallen
       
       > In London kommt die Meistersängerin kaum noch vor, in Berlin boomt der
       > Bestand. Wer möchte, kann bei der Nachtigallenforschung mitwirken.
       
   IMG Bild: Berühmt für ihren betörenden Gesang: die Nachtigall
       
       Inmitten der Frühlingsnacht dringt der Gesang der Nachtigall durchs
       Gebüsch. Laut schmetternde, leise klagende, wehmütig schluchzende Sequenzen
       wechseln einander ab, dazwischen sind wirkungsvolle Pausen gesetzt.
       
       Im Schatten der Dunkelheit klingt der Gesang, als führe er ein Eigenleben
       und wolle sich tief ins Unbewusste bohren. Bekommt man die versteckt
       lebende Nachtigall ausnahmsweise zu Gesicht, wirkt ihr feines, aber
       unscheinbar bräunliches Gefieder im Kontrast zu ihrer manischen Musikalität
       wie ein beinahe anrüchiges Understatement. Singt sie so schön, um ihr
       langweiliges Äußeres zu kompensieren?
       
       Obwohl viele Menschen den Gesang der Nachtigall nicht erkennen, hat jeder
       schon mal von ihr und ihren Fähigkeiten gehört. Er hat ganze Scharen von
       Künstlern – Shakespeare, Keats, Wilde, Storm, Eichendorff, die Brüder
       Grimm, Brahms, Grieg, Beethoven, Chopin – beeindruckt und Spuren in ihren
       Werken hinterlassen. Der englische Romantiker Shelley sagt: „Ein Dichter
       ist eine Nachtigall, die in der Dunkelheit singt, um ihre eigene Einsamkeit
       durch süße Töne aufzuheitern“.
       
       Dabei ist die Sache ornithologisch betrachtet profan. Das
       Nachtigall-Männchen singt lockend nachts, weil das die Hauptaktivitätsphase
       der Weibchen ist und tagsüber, um sein Revier zu verteidigen. Womöglich
       gibt der kleine Vogel gerade wegen dieses Kontrasts eine prächtige
       Projektionsfläche für die Fantasien und Sehnsüchte seines Menschenpublikums
       ab. Ihr Gesang galt früher als schmerzlindernd und sollte Sterbenden einen
       sanften Tod ermöglichen. In Vorderasien kursieren Geschichten, in denen
       verliebte Nachtigallen verzweifelt göttliche Rosen bezirzen. Nicht wenige
       Menschen empfinden beim Nachtigallen-Gesang tatsächlich Trauer und Glück
       zugleich.
       
       ## Nachtigallen schätzen das wilde Berlin
       
       Ähnlich romantisch-paradox mag es anmuten, dass das Tier ausgerechnet
       Berlin liebt. “In keiner anderen Metropole gibt es eine größere Dichte an
       Nachtigallen“, sagt die Ornithologin Silke Voigt-Heucke. “Hier brüten jedes
       Jahr mindestens 1500 Paare, die Population ist stabil, wenn nicht sogar
       wachsend.“
       
       Zum einen sind die klimatischen Bedingungen in Berlin perfekt – die
       Nachtigall fühlt sich im milden Tiefland wohl und hat dort die besten
       Bruterfolge, wo es weder zu trocken noch zu feucht ist. Zum anderen
       hinterlassen die mageren Budgets der Grünflächenämter verwilderte Flächen,
       ungepflegte Parkanlagen, und überwucherte S-Bahntrassen. Das bietet der
       Nachtigall Raum zum Balzen, Brüten und Futtersuchen.
       
       Erstaunlich ist, dass sie sich von heulenden Autobahnen, wummernden
       S-Bahnen und dem anderen Stadtlärm nicht einschüchtern lässt. Man kann
       sogar den Eindruck bekommen, dass sie das Großstadtgetöse eher als
       lustvolle Herausforderung betrachtet und dadurch angestachelt wird, noch
       lauter und kunstvoller zu singen. Aber das ist schon wieder eine eher
       poetische Theorie, ohne wissenschaftliche Grundlage. Bestätigt werden
       könnte sie trotzdem eines Tages. Das verwilderte Berlin hat nämlich auch
       eine [1][solide Tradition als Ort der Nachtigallenforschung].
       
       ## Darwin-Nachfahrin initiiert „Forschungsfall Nachtigall“
       
       Seit letztem Jahr läuft am Berliner Naturkundemuseum das [2][Projekt
       “Forschungsfall Nachtigall“], deren Leiterin Silke Voigt-Heucke ist.
       Initiiert wurde es maßgeblich von Sarah Darwin, Künsterlin, Biologin und
       Ururenkelin von Charles Darwin. Als sie vor ein paar Jahren aus England in
       die deutsche Hauptstadt zog, war sie überrascht vom nächtlichen
       Gesangsgewitter im Berliner Unterholz. In Großbritannien ist der Bestand
       der dort ohnehin selteneren Nachtigall seit den 70ern um über 90 Prozent
       zurückgegangen – nicht zuletzt, weil die englischen Parks zu gut gepflegt
       sind.
       
       Das nahm die aktuelle [3][Umweltbewegung Extinction Rebellion] als Anlass
       für eine Protestaktion in London. Am 29. April ließen hunderte
       Aktivist*innen auf dem Berkeley Square per konzertierter Smartphone-Technik
       künstlichen Nachtigallgesang erklingen, um auf das Artensterben aufmerksam
       zu machen. Dazu musizierten sie – an einem Ort, der während des 2.
       Weltkriegs durch das Lied „A nightingale sang in Berkeley Square“ bekannt
       wurde. Dabei ist sich die britische Ornithologie-Szene einig, dass es dort
       schon seit mindestens 150 Jahren keine Nachtigallen mehr gibt. Entweder
       entspringt der Liedtext reiner Fiktion oder beruht auf einer Verwechslung
       mit dem Rotkehlchen, das aufgrund der Laternenbeleuchtung manchmal auch
       nachts singt.
       
       Auch in Deutschland ist der Schutz der Nachtigall schon lange Thema. Seit
       dem Spätmittelalter erließen verschiedene deutsche Staaten Verbote für
       ihren Fang. Im 19. Jahrhundert gab es eine sogenannte Nachtigallensteuer,
       die bis heute als historisches Beispiel in Diskussionen um steuerpolitische
       Maßnahmen gilt. Dabei handelte es sich um eine Abgabe, die durch
       finanzielle Abschreckung dazu dienen sollte, den Wildbestand zu schützen.
       Denn viele Leute sperrten Nachtigallen in Käfige, um sie singen zu hören.
       Heute wird der Bestand in Deutschland auf rund 100.000 Brutpaare geschätzt.
       
       Nachdem Sarah Darwin die Berliner Nachtigallen in ihrem Kiez entdeckt
       hatte, begann sie mit wissenschaftlichem Eifer deren Reviere zu kartieren.
       Wenig später entstand die Idee, interessierte Bürger*innen mit Hilfe der
       Smartphone-App “Naturblick“ am Forschungsprozess zu beteiligen. Um mehr
       über die Varianz des Gesanges zu erfahren und weitere Forschungsfragen zu
       beantworten, muss nämlich zuerst eine Art akustische Bestandsausnahme
       erfolgen.
       
       In Berlin gestartet, wurde das vom BMBF geförderte Projekt dieses Jahr aufs
       gesamte Bundesgebiet ausgeweitet. Die Analyse der mit Angaben zu Ort und
       Zeit versehenen Gesangsaufnahmen hat bereits eine Bandbreite von über 2000
       Strophenvarianten ergeben. Die neuen Daten dürften Rückschlüsse auf
       regionale “Dialekte“ erlauben, wie auch auf bevorzugte Habitate, den
       Einfluss von künstlichem Licht, Lärm und Bautätigkeiten,
       Langzeitentwicklungen der Populationsdichte und Wanderbewegungen. “Wenn wir
       die Umweltparameter besser verstehen, könnten wir einen Leitfaden zum
       Schutz der Nachtigall erstellen“, sagt Vogelexpertin Voigt-Heucke.
       
       ## Der Gesang klingt fast wie Techno
       
       Das Projekt beleuchtet neben biologischen auch kulturgeschichtliche Aspekte
       und bietet den Teilnehmer*innen die Möglichkeit, persönliche Geschichten
       und Eindrücke zu teilen. Einige berichten vom alljährlichen Glücksmoment,
       Ende April die erste Nachtigall zu hören, andere assoziieren den Gesang mit
       Heimat, ihrer Kindheit, dem Anfang einer Liebe. Projektteilnehmer Sascha P.
       schreibt: “Mit Hilfe der Naturblick-App zum ersten Mal bewusst eine
       Nachtigall gehört und identifiziert. Ich war bisher der Meinung, die
       Nachtigall singt melodiös oder irgendwie lieblich. Umso überraschter war
       ich, dass der wirkliche Gesang irgendwo zwischen Techno und dem Soundeffekt
       eines 90er-Jahre-Computerspiels liegt.“
       
       Ein Bürgerforscher aus Berlin-Steglitz berichtet: “In dem Baum vor meinem
       Schlafzimmerfenster lässt sich regelmäßig eine Nachtigall nieder und singt
       voller Inbrunst – leider jedoch schief…“ Tatsächlich singt jede Nachtigall
       ein bisschen anders. Im Schnitt beherrscht ein Männchen 190 verschiedene
       Strophen, und gibt sie in immer neuen Kombinationen zum Besten. Warum aber
       betreiben die Männchen so viel Aufwand, um Weibchen zu beeindrucken? Sie
       singen in den Wochen nach ihrer strapaziösen Anreise aus Afrika fast
       ununterbrochen, bis zu 20 Stunden am Stück. Dabei bebt und zittert ihr
       ganzer Körper.
       
       “Evolutionsbiologisch betrachtet, ist der Gesang der Nachtigall wie eine
       akustische Version des Pfauenrads“, sagt Sarah Darwin. “Diese Strategie hat
       Vorteile – je mehr Strophen ein Männchen drauf hat, desto attraktiver ist
       es für die Weibchen. Aber das bleibt auch nicht ohne Kosten.“ So müssen die
       Jungen von Ihren Vätern den Gesang mühselig erlernen und dann regelmäßig
       “üben“.
       
       ## Berlins Nachtigallen machen Hoffnung
       
       Manchmal mischt sich dabei der [4][US-amerikanische Philosoph, Buchautor
       und Jazz-Musiker David Rothenberg] bewusst ein. Mit der Klarinette
       spazieren er und andere Musiker*innen jeden Frühling durch das nächtliche
       Berlin und musizieren, woraufhin die Nachtigallen antworten und es zum
       kollaborativen Zusammenspiel kommt. Rothenberg meint: „Der Umstand, dass
       ich das in Europas zweitgrößter Stadt machen kann, einer Metropole mit mehr
       als drei Millionen Einwohnern, gibt mir eine besondere Art von Hoffnung.“
       
       Darwin und Voigt-Heucke sehen das ganz ähnlich – und hoffen wohl, wie die
       wachsende Nachtigallen-Community insgesamt, dass Berlin sich seine Wildnis
       bewahrt.
       
       10 May 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Petition-gegen-Tierversuche/!5506499/
   DIR [2] https://forschungsfallnachtigall.de/
   DIR [3] /Junge-Bewegung-Extinction-Rebellion/!5585148/
   DIR [4] https://www.nightingalesinberlin.com
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrew Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR Vögel
   DIR Ornithologie
   DIR Citizen Science
   DIR Tiere
   DIR Wissenschaft
   DIR Naturkundemuseum
   DIR Lübeck
   DIR Singvögel
   DIR Tierversuche
   DIR Citizen Science
   DIR Vögel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Eine Villa für Johannes Brahms: In der Jugend ein Feuerkopf
       
       Das Lübecker Johannes-Brahms-Institut erforscht, dokumentiert und
       erschließt das Oeuvre des Komponisten. Der war gar nicht so konservativ wie
       gedacht.
       
   DIR Experimentalmusik mit Nachtigallen: „Sie fordern mich heraus“
       
       Doo-doo-Pi-Pi-Pi-Tschk: Wenn David Rothenberg nachts in der Hasenheide
       diese Klänge hört, packt er die Klarinette aus und musiziert mit
       Nachtigallen.
       
   DIR Petition gegen Versuche an Nachtigallen: Es war der Vogelsänger, nicht der Müller
       
       Rund 127.000 Menschen unterschreiben eine Petition, um Tierversuche an
       Nachtigallen an der Freien Universität doch noch zu stoppen.
       
   DIR Förderprogramm für Citizen Science: Staatsknete für die Bürgerforschung
       
       Citizen-Science-Projekte erhalten erstmals eine Förderung. Aber die
       Bewegung der Bürgerforschung ist noch sehr unpolitisch.
       
   DIR Der Vogelbeobachter-Beobachter: „Vögel haben eine besondere Aura“
       
       Bernd Brunner über sein Buch „Ornithomania“, zwei besonders fanatische
       Birdwatcherinnen, Taubenzüchter, Zivilisationsflucht und Eierdiebe.