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       # taz.de -- Skandalurteil eines Gießener Gerichts: „Migration tötet“
       
       > Die NPD klagte gegen die Abhängung ihrer Plakate. Ein hessischer
       > Verwaltungsrichter gab ihr Recht. Mit einer Begründung im Duktus der NPD.
       
   IMG Bild: Wenn ein Richter Rechtsprechung mit Rechtssprechung verwechselt, freut das die NPD
       
       Gießen taz | „Migration tötet!“ – mit diesem Plakatspruch zog die NPD im
       Frühjahr in den Europawahlkampf. Viele hielten das für Volksverhetzung. Das
       Verwaltungsgericht Gießen war aber ganz anderer Meinung: Eigentlich
       beschreibe die NPD nur die Realität. Der skandalöse Beschluss ist aber noch
       nicht rechtskräftig.
       
       „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt“, lautet der volle
       Wortlaut des NPD-Plakats. Cäcilia Reichert-Dietzel, die SPD-Bürgermeisterin
       der hessischen 5.000-Einwohner-Gemeinde Ranstadt, ließ die Plakate im Mai
       kurz vor der Wahl abhängen.
       
       Das Plakat schüre Angst vor Ausländern und erwecke den Eindruck, dass alle
       in Deutschland lebenden Migranten potenzielle Mörder seien. Das verletze
       die Menschenwürde dieser Bevölkerungsgruppe. Die Bürger würden unverhohlen
       aufgefordert, sich nun selbst gegen einreisende Ausländer zu wehren.
       
       [1][Wie auch in mehreren weiteren Fällen] klagte die NPD gegen die
       Abhängung. In diesem Fall bekam die rechtsextremistische Partei im August
       beim Verwaltungsgericht Gießen Recht: Die Plakate seien zu Unrecht
       abgehängt worden. [2][(Az.: 4 K 2279/19.GI)]
       
       Entschieden hat den Fall, so erfuhr die taz aus Kreisen der
       Verfahrensbeteiligten, Richter Andreas Höfer. Eigentlich hätte er es sich
       einfach machen können, denn die Ranstädter Bürgermeisterin hatte die NPD
       nicht angehört, bevor sie die Plakate abhängte. Schon wegen dieses
       Verfahrensfehlers war die Aktion rechtswidrig. Doch Höfer wollte die
       NPD-Parolen auch inhaltlich bewerten.
       
       Der Richter stieg tief in die Weltgeschichte ein, um seine Entscheidung zu
       begründen. Über Seiten hinweg schildert er hobbyhistorisch den Untergang
       des „fremdenfreundlichen“ Römischen Reichs als Konsequenz der
       Völkerwanderung.
       
       Dann thematisiert er die europäische Besiedelung Amerikas mit ihren
       tödlichen Auswirkungen für Indianer, Azteken und Inkas. „Aus den zitierten
       beispielhaften historischen Wanderungsbewegungen wird deutlich, dass
       Migration tatsächlich in der Lage ist, Tod und Verderben mit sich zu
       bringen“, schreibt Höfer.
       
       ## Wie einst im römischen Reich
       
       Solche Bedrohung ist für den Richter aber auch hochaktuell: „In der Tat hat
       die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/15 zu einer
       Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von
       Menschen geführt hat, als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der
       freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen“, führt er aus.
       
       Höfers Urteilsbegründung liest sich über weite Strecken wie ein
       Positionspapier für einen NPD- oder AfD-Parteitag. Alles was rechten
       Hasspredigern zum Thema Migration einfällt, findet sich feinsäuberlich
       aneinandergereiht. Der erhöhte Anteil von Zuwanderern unter den
       Tatverdächtigen bei Sexual- und Tötungsdelikten, die Kölner Silvesternacht
       2015, die Wuppertaler „Scharia-Polizei“ und Zustände in deutschen
       Freibädern. Dazu Ehrenmorde, Blutrache und Salafismus.
       
       „Hier eine reale Gefahr zu negieren hieße, die Augen vor der Realität zu
       verschließen“, so der Richter. „Sollte die Bundesrepublik Deutschland nicht
       mehr in der Lage sein, das Gewaltmonopol innerhalb ihrer Grenzen effektiv
       und wirksam auszuüben, ist hiermit ein schleichender Untergang verbunden,
       wie es einst im römischen Weltreich auch der Fall war.“
       
       ## Invasion „objektiv feststellbar“
       
       Höfers Schlussfolgerung: „Nach vorstehenden Ausführungen ist der Wortlaut
       des inkriminierten Wahlplakats ‚Migration tötet‘ nicht als volksverhetzend
       zu qualifizieren, sondern als die Realität teilweise darstellend zu
       bewerten“, so sein Gerichtsbeschluss.
       
       Auch den Begriff der „Invasion“ findet Richter Höfer nicht volksverhetzend,
       sondern völlig in Ordnung. Der Begriff beschreibe „hier im übertragenen
       Sinne lediglich den Zustand des Eindringens von außen in das Gebiet der
       Bundesrepublik Deutschland, wie es insbesondere im Jahr 2015 objektiv
       feststellbar war“, schreibt er.
       
       In diesem Jahr seien „die deutschen Grenzen durch die Wanderungsbewegung im
       Sinne eines Eindringens in das deutsche Staatsgebiet überrollt“ worden,
       glaubt Höfer. Der Begriff „Invasion“ beinhalte deshalb in diesem Kontext
       „keine Wertung“.
       
       Höfer findet es also offenkundig normal, die Welt im hetzerischen Duktus
       der NPD zu beschreiben. Demnächst wird sich die nächste Instanz damit zu
       beschäftigen haben, dass hier ein deutscher Richter Rechtsprechung mit
       Rechtssprechung verwechselt hat.
       
       ## Mehrdeutige Parole
       
       Nun kann man tatsächlich darüber streiten, ob das NPD-Plakat zwingend als
       Volksverhetzung einzustufen ist. So hat das Bundesverfassungsgericht im Mai
       2019 [3][in einem anderen Fall entschieden], die mehrdeutige Parole
       „Migration tötet“ könne auch so ausgelegt werden, dass sie nicht strafbar
       ist, weil etwa nur auf einzelne Straftaten von Migranten hingewiesen werde.
       Allerdings ließen die Verfassungsrichter offen, „ob das Plakat unter
       anderen Gesichtspunkten als verfassungsrechtlich unzulässig gedeutet werden
       kann“.
       
       Die Ranstädter Bürgermeisterin Reichert-Dietzel war zwar „fassungslos“ über
       die Begründung des Gießener Gerichts. Sie verzichtete aber in Absprache mit
       ihrem Gemeinderat sowie dem hessischen Städte- und Gemeindebund auf ein
       Rechtsmittel. Die Erfolgsaussichten schienen ihr zum einen wegen der
       Karlsruher Entscheidung, zum anderen aber auch wegen des Verfahrensfehlers
       eher gering.
       
       Außerdem fühlte sich Reichert-Dietzel vom Land „allein gelassen“, obwohl
       sie frühzeitig auf die skandalösen Formulierungen hingewiesen hatte. Wenige
       Stunden vor Ende der Berufungsfrist meldete sich das Wiesbadener
       Innenministerium des CDU-Mannes Peter Beuth dann doch noch und forderte
       Reichert-Dietzel auf, Berufung einzulegen. Das war ihr nun aber zu
       überstürzt.
       
       Stattdessen legte dann der Wetteraukreis als Kommunalaufsicht im Namen der
       Kommune Berufung ein. Grund für den plötzlichen Aktivismus des Landes
       könnte sein, dass kurz zuvor in Altenstadt-Waldsiedlung (ebenfalls im
       Wetteraukreis) ein NPD-Mann zum Ortsvorsteher gewählt worden war.
       
       Jetzt liegt der Fall mit den NPD-Plakaten also beim Verwaltungsgerichtshof
       (VGH) Kassel. Da dieser ganz neu über die Klage der NPD entscheiden wird,
       könnte er zumindest die Begründung des Verwaltungsgerichts Gießen
       beseitigen – selbst wenn das Abhängen im Ergebnis rechtswidrig bliebe. Der
       VGH wird aber wohl erst nächstes Jahr entscheiden.
       
       ## Kämpfer für's Deutsche
       
       Bisher hat der Gießener Verwaltungsrichter Höfer erst einmal überregionale
       Aufmerksamkeit auf sich gezogen: 2014 bezweifelte er in einem Urteil, ob
       ein Jobcenter eine deutsche Behörde sein könne.
       
       Für seine eigenwillige Auffassung lieferte Höfer eine originelle
       Begründung: Bei der Bezeichnung „Jobcenter“ handele es sich nicht um eine
       aus der deutschen Sprache herrührende Begrifflichkeit. „Von daher ist mehr
       als fraglich, ob eine unter dem Begriff ‚Jobcenter‘ firmierende Einrichtung
       eine deutsche Verwaltungsbehörde sein kann“, befand Höfer. [4][(Az.: 4 K
       2911/13.Gl)]
       
       Aus seiner Sicht hätten „derartige Anglizismen oder andere Fremdworte weder
       in der deutschen Gerichtsbarkeit noch im deutschen Behördenaufbau einen
       Platz.“ Bei weiterem Fortschreiten „derartiger sprachlicher Auswüchse
       erscheint infolge der verursachten Verwirrung die Funktionsfähigkeit des
       Verwaltungshandelns insgesamt gefährdet“.
       
       Die Rechtsaußenpostille Junge Freiheit jubilierte seinerzeit: „Solche
       Richter braucht die deutsche Sprache!“
       
       30 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verdacht-auf-Volksverhetzung/!5593638
   DIR [2] https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE190036038
   DIR [3] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/05/qk20190524_1bvq004519.html
   DIR [4] https://harald-thome.de/fa/harald-thome/files/VG-Giessen-4K-2911-13-Jobcenter-Telefonliste.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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