URI: 
       # taz.de -- Soloalbum von Hans Nieswandt: Blumen des Guten
       
       > Mit „Flower Hans“ baut der in Seoul lebende Elektronikproduzent Hans
       > Nieswandt eine Brücke zwischen Westcoast-Hippiesound und House.
       
   IMG Bild: Wanderer zwischen den Welten Hippiesound und House: Hans Nieswandt
       
       Postpunk war 1986 vorbei, plötzlich und spürbar. In Hamburg kam eine Band,
       in der der junge Hans Nieswandt spielte, nicht so recht in die Gänge.
       Stattdessen lernten wir ihn zunächst als Autor kennen. Nieswandt reizte die
       nach dem Ende von Postpunk erklingende Relativierung rigider ästhetischer
       Werturteile. Folk-Rock und Singer-Songwriter von der verschmähten Westküste
       der USA wurde wiederentdeckt.
       
       Diese Wiederentdeckung passierte nirgends inniger als in Hamburg, wo das
       rührige Label Line-Records Spätwerke von Vergessenen wie Terry Dolan und
       Commander Cody veröffentlichte und so manchem Westcoast-Veteranen das
       Frühstücksbrötchen zahlte. Und obwohl es mit der Band Medien, Märkte,
       Meinungen nicht so ganz was wurde, lernte Nieswandt bei ihnen noch mehr
       über die tollsten langhaarigen Schnauzbartträger der 1960er und frühen
       1970er Jahre. Zur Reise in die Vergangenheit gesellte sich eine damals neue
       elektronische Musik aus den Clubs der USA: House!
       
       Bald schrieb der nach Köln umgezogene Hans Nieswandt nicht nur im
       Musikmagazin Spex über den neuen Sound, er legte diesen auch auf und so
       lernte ihn die Welt kennen, als DJ. Sein neues Album „Hans Nieswandt
       presents Flower Hans“ wirkt wie die vertonte Essenz jener Tage, es
       verspricht „A Collection of Songs from the Hippie Era in a Disco Style“.
       
       ## Folkige Melancholie
       
       Das subtile Pumpen des Beats im Auftaktstück „Friends and Lovers“ verrät
       dann auch: „Flower Hans’“ Version von Disco wurde auf dem Fundament von
       House errichtet. Die folkige Melancholie des kaum bekannten Originals von
       Willie Murphy & „Spider“ John Koerner hallt wider im Akzent der
       koreanischen Sängerin Abopf, als Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, so oft
       vernehmbar in der den US-Stile rezipierenden ostasiatischen Popmusik.
       Tatsächlich entstand ein guter Teil der Musik in Seoul, wo Nieswandt seit
       2019 lebt, als DJ und Musiker aktiver denn je wirkend sowie [1][für die taz
       von dort] berichtend.
       
       Ebenso beteiligt am Kompositionsprozess sind Studentinnen und Studenten des
       Essener Folkwang-Instituts für Pop-Musik, dessen Direktor Nieswandt war,
       bevor er nach Südkorea ging. Als sein eigener „Musical Director“ hegt
       Nieswandt nun Originale, zeigt was House vermag. Eine Antithese zur leider
       allzu oft üblichen Praxis, einfach einen Beat unter den Song zu legen.
       Nieswandt gestaltet neue Arrangements und bearbeitet die Melodien, beides,
       Song und Groove sind ihm Kunstwerke.
       
       Zugleich macht seine Songwahl deutlich, dass wir eine
       eklektisch-einsichtige Idee von Hippietum und der musikalischen Welt jener
       im Kern von 1965 bis 1972 weilenden Ära zu erwarten haben. Entsprechend
       lässt einen Song zwei grübeln, bei wem Nieswandt dieses schöne, in seiner
       Struktur eher an italienische Popmusik erinnernde Stück gefunden haben mag.
       
       ## Sweet Algorithm
       
       Die Antwort: In seinem Kopf! Die eingeschmuggelte, selbst gesungene
       Eigenkomposition setzt den ersten Ohrwurm. Wo „Sweet Algorithm“ beim
       Rezensenten als „Sweet like a rhythm“ nachhallt, formuliert dieser Verhörer
       doch geradewegs das Credo der Musik.
       
       Es ist das dritte Soloalbum des 1964 Geborenen nach beachtlichen Erfolgen
       Mitte der 1990er Jahre mit dem Trio Whirlpool Productions, deren Mäandern
       zwischen Track und Song, House und Disco ihnen einen Top-10-Hit in Italien
       bescherte. Mit der Bearbeitung des rauschhaften „Ride the wind“ der
       Youngbloods folgt dann die am ehesten, im retroklassischen Sinne
       Disco-Adaption zu nennende Version.
       
       Ihre Tanzbarkeit wurde bereits vom swingenden Bass des Originals auf den
       Weg gebracht und ist so auch Erinnerung daran, dass mache Hippies der Disco
       gar nicht fern waren, man denke nicht zuletzt an die von „Satuday Night
       Fever“ begeisterten [2][Grateful Dead]. Deren Album „Terrapin Station“
       zitiert auch die Hülle von „Flower Hans“, sozusagen eine Coverversion des
       [3][Dead-Covers].
       
       ## Störrische Reserviertheit
       
       Nicht alle der ursprünglich eher schwermütigen Songs finden ganz bruchlos
       den Weg auf die Tanzfläche. So sträubt sich der Song „Tale in Hard Time“
       der britischen Folkrockband Fairport Convention mit jener störrischen
       Reserviertheit, die die Kompositionen ihres Gitarristen Richard Thompson
       stets prägte. In der Vielfalt seiner Mittel, die Originale zu bearbeiten,
       erweist sich „Flower Hans“ als „Schatzkästlein des rheinischen
       House-Freundes“.
       
       Man erinnert sich an die Möglichkeiten, die in dieser Musik lagen, wie
       House um 1990 selbst seine Songwriter-Version entwickeln wollte, etwa im
       besorgt gestimmten Album „On Top of the World“ von [4][Larry Heards
       kurzlebigem Projekt The It]. Vergessen machte dies die schlichte
       Club-Erfolgsformel, grobe Checker-Effekte und Star-DJs.
       
       Deren Gehabe war oft noch unangenehmer als die Rockstarposen der
       Nach-Hippie-Ära, da Letztere zumindest Genies sein wollten, statt sich im
       bekoksten Zynismus ihrer dreieinhalb Tricks zu ergehen. So ist gar nicht
       klar, was in „Flower Hans“ wen rettet, House die schlecht beleumundete
       Hippie-Musik oder andersherum. Letztlich erblüht aus beidem der Sound.
       
       ## Zwischen Individuum und Community
       
       Dass er dabei auch ein Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Gruppe
       skizziert, welches auf unterschiedliche Weise Hippiebewegung wie auch Disco
       prägte, illustriert just die Version des berühmtesten der ausgewählten
       Originale: Nat King Coles „Nature Boy“. Komponiert wurde der Jazzstandard
       einst vom langhaarigen und bärtigen Eden Ahbez, einem Lounge-Music-affinen
       Asketen, der zwischen romantisch-eremitischem Außenseitertum und
       Lebensreformbewegung den Archetyp des modernen kalifornischen Ideals schuf.
       
       Nieswandt gibt der Ode an den Zauberjungen den pursten Housegroove des
       Albums und erhält dabei einen jener Momente zwischen Innerlichkeit und
       Euphorie, in der ganz aus der Kraft der Musik die Füße über den Tanzboden
       schweben, derweil Folkwang-Studentin Isabelle Pabst halb schlafwandlerisch,
       halb desinteressiert becircend den Text singt.
       
       So entsteht ein introspektives Gegenüber zu Crystal Waters House-Klassiker
       über die am Straßenrand um Kleingeld singende „Gipsy Woman“. War dies nicht
       Verheißung der Disco- wie der Hippie-Welt, dass sich Obdachlose und
       Goldkinder, Beladene und Beflügelte treffen, um jenseits von
       sozialistischer Dogmatik und elitärer Tristesse etwas Gemeinsames zu
       schaffen?
       
       ## Eben keine Nerd-Beliebigkeit
       
       Der Traum mündet in einen Dubreggae-Beat, der das Höchstmaß an Tanzbarkeit
       bezeichnet, das man „Big bright Street“ Hirth Martinez’ so tieftrauriger
       Geschichte von Einsamkeit, Hoffnung und Resignation denn zumuten kann. Der
       nahezu vergessene Martinez erfuhr um die Jahrtausendwende nochmals die
       Aufmerksamkeit japanischer Hipster, so dass bald auch hierzulande
       Raritäten-Angeber mit seinen Werken aufwarteten: „Hey, echt schräg!“ – Doch
       genau das ist „Flower Hans“ nicht, keine beliebige, stylische Nerd-Idee,
       Nieswandts Album fügt Stränge zusammen.
       
       Nicht umsonst nannte man den Acidhouse Craze des Jahres 1988 „Second Summer
       of Love“, und irgendwie erklingt da auch das Echo jenes von Spex
       organisierten Allnighters zu Beginn der 1990er, wo sich auf den Tanzflächen
       eines Partyboots in Konstanz am Bodensee beide musikalischen Welten trafen.
       
       Das war und ist Hans Nieswandts Vision, Disco ohne Society-, Hippietum ohne
       Barfuß-Klischee. Ein Versprechen jener Zeit nach Postpunk. Sie erinnern
       sich? Im bereits erwähnten Jahr des Wandels, 1986, präsentierten just die
       nun auch dem Postpunk-Gestrigen anheimfallenden gymnasialen Goths des
       britischen Labels 4AD auf dem zweiten Album von This Mortal Coil elegische
       Versionen wenig bekannter Hippie-Songs. Gothic nutzte, trotz allem Erfolg
       des Albums, die Chance zur musikalischen Weiterbildung nicht, House wäre es
       zu wünschen.
       
       10 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Die-andere-koreanische-Popkultur/!5913848
   DIR [2] /Tribute-Compilation-fuer-Grateful-Dead/!5319420
   DIR [3] /50-Jahre-Grateful-Dead/!5240637
   DIR [4] /Sphaerenmusik-von-Prekop-und-McEntire/!5877006
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Oliver Tepel
       
       ## TAGS
       
   DIR Seoul
   DIR Neues Album
   DIR House
   DIR wochentaz
   DIR Leipzig
   DIR Memoiren
   DIR LSD
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Baba Stiltz' Album „Paid Testimony“: Autofiktionales Trinken
       
       Erst Star-DJ, jetzt Singer-Songwriter. Der schwedische Elektronikproduzent
       Baba Stiltz kehrt mit dem Album „Paid Testimony“ zu seinen Anfängen zurück.
       
   DIR Techno-Produzent Kassem Mosse: Erschöpft und entgrenzt
       
       Der Leipziger Gunnar Wendel alias Kassem Mosse meldet sich mit seinem Album
       „workshop 32“ zurück. Es ist das klandestine Rauschen des Undergrounds.
       
   DIR Memoiren der Folk-Sängerin Vashti Bunyan: Die Frau auf dem Pferdewagen
       
       Die britische Musikerin Vashti Bunyan veröffentlicht ihre Memoiren. Darin
       erzählt sie die Geschichte ihres mysteriösen Abtauchens in den 60ern.
       
   DIR 50 Jahre Grateful Dead: Sonnenschein und Todesnähe
       
       Die US-Acidrock-Legende Grateful Dead ist auch 50 Jahre nach der Gründung
       erfolgreich. Zum Jubiläum erscheint ein Boxset mit Liveaufnahmen.