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       # taz.de -- Sommer-Berlinale: Vielleicht wandelt sie noch immer
       
       > In der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ bietet die Sommerausgabe der
       > Berlinale viele Dokumentationen und Fiktionales mit Doku-Touch.
       
   IMG Bild: „Wood and Water“ von Jonas Bak, DEU, FRA 2021, Perspektive Deutsches Kino​
       
       Wieviel Fiktion ist erlaubt im Dokumentarfilm? Das wird seit dem Skandal um
       die [1][vermeintliche NDR-Doku “Lovemobil“] diskutiert, bei der sich
       irgendwann herausstellte, dass sie eher ein Spielfilm ist. In die
       umgekehrte Richtung lässt sich ein gewisser Hybrid-Effekt hin zur
       dokumentarischen Anmutung bei gleich zwei fiktionalen Filmen erkennen, die
       bei der Sommer-Berlinale in der Sektion “Perspektive Deutsches Kino“ zu
       sehen sind.
       
       In “[2][Jesus Egon Christus]“ von David & Sasa Vajda etwa umschleicht einen
       immer wieder das Gefühl, dass der Psychotiker Egon, der in der Umgebung
       Berlins bei der von einem Jesus-Freak geleiteten Lebenshilfe untergekommen
       war, vielleicht eine echte Person ist, die wirklich beim Ausflippen
       beobachtet wird.
       
       Wie bei einem Film von Ulrich Seidl fragt man sich immer wieder, ob das
       Gezeigte nicht doch “echt“ und wortwörtlich aus dem Leben gegriffen sein
       könnte. Kommt dann aber zu dem Schluss, dass sich Menschen in solchen
       Extremsituationen kaum derart intim beobachten lassen und liegt damit
       wahrscheinlich auch richtig.
       
       Der Film “Wood and water“ von Jonas Bak [3][wirkt ebenfalls ziemlich
       dokumentarisch]. Man hört Anke zu, die von ihrem Leben im Ruhestand erzählt
       und von der glücklichen Zeit mit ihrem verstorbenen Ehemann. Sie
       reflektiert Vergangenes mit Blick auf das Haus an der Ostsee, in dem sie
       früher gelebt hat und man hat nicht das Gefühl, dass ihr irgendein
       Drehbuchautor die Worte in den Mund gelegt hat. Diese Frau hat wirklich mal
       in dem Häuschen gelebt und vermisst ihren Mann, glaubt man bald.
       
       ## Der Filmemacher folgt
       
       Gespielt wird Anke auch noch von der Mutter des Regisseurs selbst, was die
       Vorstellung verstärkt, dieser dokumentiere deren letzten Lebensabschnitt.
       Wohin Anke auch immer geht, der Filmemacher folgt ihr, ist man sich sicher,
       und nicht umgekehrt. Der Sohn im Film aber heißt nun Max, nicht Jonas, und
       ist nach Hongkong ausgewandert, wohin Anke dann auch reist.
       
       Und es dämmert einem: “Wood and water“ ist ein fiktionaler Stoff.
       Allerdings behält der Film auch bei den Szenen in Hongkong seinen
       dokumentarischen Touch. Anke lässt sich zunehmend ein auf das ihr so fremd
       wirkende Leben in Ostasien. Sie macht Tai Chi im Park, trifft einen
       Wahrsager und nie wirken die Szenen gestellt.
       
       Die alte Frau gleitet durch die neue Welt und alles fühlt sich für sie bald
       gar nicht mehr so ungewöhnlich an. Sie flaniert umher, um noch einmal das
       Leben einzusaugen. Sie wird dabei begleitet vom ruhigen und beruhigenden
       Ambientsound Brian Enos, und man kann sich gut vorstellen, dass sie immer
       noch die Hochhausschluchten Hongkongs durchmisst.
       
       Und dann sind bei der “Perspektive Deutsches Kino“ auch noch
       Dokumentarfilme zu sehen, die auch wirklich welche sind. Beispielsweise
       “Instructions for survival“ von Yana Ugrekhelidze. Erzählt wird hier die
       Geschichte des Transmannes Alexander, der mit seiner Lebensgefährtin Mari
       im konservativen Georgien lebt.
       
       Ein Outing als Transperson ist in diesem Land kaum möglich, die
       gesellschaftliche Ächtung wäre ungemein. Und auch Alexander ist für die
       Behörden immer noch eine Frau, obwohl er sich längst selbst als Mann liest
       und auch als solcher wahrgenommen werden möchte.
       
       ## Geschichten von staatlicher Repression
       
       Geschichten von staatlichen Repressionen bekommt man auch in der
       Dokumentation “[4][In Bewegung bleiben]“ von Salar Ghazi erzählt. Der
       Filmemacher lässt ehemalige Tänzer und Tänzerinnen zu Wort kommen, denen es
       in der DDR erlaubt war, für Gastspiele in den Westen zu reisen. Berichtet
       wird von Sehnsüchten und davon, wie es war, sich selbst andauernd die Frage
       zu stellen: Soll ich dieses Mal einfach drüben bleiben?
       
       Eigentlich ein interessanter Stoff. Doch in dem Schwarz-Weiß-Film wird dann
       schon sehr lange zweieinhalb Stunden erzählt und erzählt und man erfährt
       eigentlich mehr über das Tanzen an sich als über ein Stück deutsch-deutsche
       Geschichte in den Achtzigern.
       
       Die “Perspektive Deutsches Kino“ steht gerne auch mal für sperrige oder gar
       unfertige Filme von Nachwuchsfilmemachern. Kommerzielle Verwertbarkeit ist
       eher unwichtig und man kann sich auch kaum vorstellen, dass man irgendeinen
       der diesjährigen Filme aus dieser Sektion einmal regulär im Kino zu sehen
       bekommt.
       
       Außer “[5][Die Saat]“ von Mia Maariel Meyer. In diesem Film sind deutsche
       Schauspielerstars wie Hanno Koffler, Andreas Döhler und Robert Stadlober zu
       sehen. Und auch wenn “Die Saat“ alles andere als Popcorn-Kino ist, gibt es
       doch einen ordentlichen Spannungsbogen und Drama genug aus dem Leben des
       von Koffler gespielten Rainer Matschek, der an beruflichem und familiären
       Druck zunehmend zerbricht und auch seine Tochter Nadine mit in den Strudel
       abwärts reißt. Für “Perspektive“-Verhältnisse ist “Die Satt“ sogar
       regelrecht ein Reißer.
       
       11 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /NDR-Doku-Lovemobil/!5757312
   DIR [2] https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202104203
   DIR [3] https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202103504
   DIR [4] https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202100805
   DIR [5] https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202107213
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hartmann
       
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