# taz.de -- Sommerdebatten von Freibad bis Löwin: In Berlin hat das Sommerloch Zähne
> In der Hauptstadt trägt man immer etwas dicker auf: Aus
> Freibadschlägereien wird eine nationale Debatte und aus einer Wildsau
> schnell eine Raubkatze.
IMG Bild: Doch keine Löwin? Tierartenvergleich bei einer Pressekonferenz
Warum wir in Berlin immer so übertreiben müssten, fragte mich eine Freundin
aus Süddeutschland per Mail. Sie schickte ein augenrollendes Emoji
hinterher, dazu einen Artikel über die Gewalt in Berliner Freibädern mit
dem sehr dick aufgetragenen Titel: „Der Sozialstaat wird am Sprungturm
verteidigt!“ Sie hat recht.
In Berlin gibt es nicht einfach halbstarke Idioten, die sich an der Rutsche
schlagen, andere Badende belästigen und Bademeister angreifen (wobei ich
jetzt nicht sagen will, dass diese Gewalt kein Problem darstellt) – nein,
es gibt „die Freibaddebatte“. Genau wie es ein paar Monate zuvor „die
Silvesterdebatte“ gab. Und weil es schließlich um die Hauptstadt geht, die
für den Rest der Republik eine prima Projektionsfläche bietet, diskutiert
das ganze Land munter mit. Toxische Männlichkeit! Integrationsprobleme!
Warum gibt es so was nicht in Hamburg beziehungsweise „in meiner Kindheit“?
Flugs bildeten sich dieselben Reiz-Reaktions-Muster wie immer: Erst hauen
Politiker schlecht durchdachte Law-and-Order-Vorschläge raus. Der
CDU-Generalsekretär [1][Carsten Linnemann] forderte eine Aburteilung von
Tätern noch am selben Tag. Auch am Wochenende! Der Deutsche Richterbund
konterte ebenso vorhersehbar: sehr witzig – und mit welchem Personal? SPD
und Grüne warfen dem Konservativen überraschenderweise Populismus vor.
Mich macht das alles müde. Das Geraune über Berlins „massive“
Integrationsprobleme. Die erstaunlich autoritären Vorschläge auch aus
linken Kreisen, wonach man etwa alle männlichen Wesen ab 13 aus den
Freibädern aussperren sollte. Oder die Idee, mit genügend
Sozialarbeiter:innen am Beckenrand würden die Probleme verschwinden.
Noch müder machen die wenigen Zahlen zur Debatte: Der Berliner Senat
antwortete auf eine besorge Parlamentarische Anfrage der AfD, dass es im
Vor-Corona-Jahr 2019 in den rund zwei Dutzend Berliner Freibädern 71
registrierte Gewaltdelikte gab, 2022 waren es 57. Ein Rückgang also? Zzz.
Pardon, ich bin kurz eingenickt. Einer amtsärztlichen Empfehlung folgend,
habe ich zur Entspannung ein kleines Hitze-Nickerchen gemacht. Der Deutsche
Gewerkschaftsbund empfiehlt das auch während der Arbeitszeit. Dazu ein
kühles Getränk und „gelockerte Kleiderordnung“ – Freibadgefühl während der
Arbeit sozusagen. Herrlich! Füße in der Wasserschüssel, Wassermelönchen in
Griffweite, die Mittagspause großzügig verlängert …
## Wuchernde Siesta-Fantasien
Natürlich ist der Verband der Familienunternehmer gegen so viel
Schlendrian. Wir sind ja hier nicht in Mexiko, sondern im Mutterland der
eifrigen Produktivitätsimperative: Vorsprung durch Technik! Freude am
Fahren! Auf diese Steine können Sie bauen! Offenbar hat man in der
deutschen Wirtschaft Angst, das Image des effizienten Standorts zu
schädigen. Die Vorsitzende des Familienunternehmerverbands, Marie-Christine
Ostermann, bremste die in der Sommerhitze wuchernden [2][Siesta-Fantasien]
jedenfalls ganz humorlos mit dem Appell aus, im Sommer doch einfach früher
mit dem Arbeiten zu beginnen: „Früher Vogel fängt den kühlsten Wurm“, riet
die im Lebensmittelgroßhandel tätige Westfälin auf Spiegel Online.
Für zusätzliche Abkühlung sorgte neben der Einführung der Ausweispflicht
in [3][Berliner Freibädern] am Donnerstag ein Temperaturrückgang. Und die
Sichtung einer angeblichen Löwin, die im Berliner Süden frei herumlaufen
soll. Große Aufregung! Sofort machten die Freibaddebatte und die
Nickerchen-Debatte der Löwen-Debatte Platz. Hat eine Löwin wirklich solche
Ohren? Darf ich jetzt noch mit dem Dackel Gassi gehen? Und wohnt in der
Nähe der gesichteten Raubkatze nicht ein bundesweit bekannter Clan, der auf
einer Hochzeit mal ein Tigerbaby präsentierte?
In unserer Nachbarschaft konnte ich zum Glück bislang nur die Sichtung
eines Fuchses vermelden, der zutraulich mitten im Garten stand, während ihm
der Schwanz einer frisch getöteten Ratte aus dem Maul baumelte. Ich schrieb
meiner süddeutschen Freundin: „Siehst du, wir haben es schon wieder getan:
Bei uns in Berlin hat das Sommerloch sogar Zähne!“
22 Jul 2023
## LINKS
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## AUTOREN
DIR Nina Apin
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