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       # taz.de -- Spaltung der Linken: Sozialismus mit rechtem Code
       
       > Nationalisten und „Linkskonservative“ – ein Blick ins europäische Ausland
       > gibt eine Ahnung vom Programm einer möglichen neuen Wagenknecht-Partei.
       
   IMG Bild: Sahra Wagenknecht beim „Aufstand für den Frieden“ am Brandenburger Tor in Berlin, 25.2.2023
       
       Die politische Zukunft von [1][Sahra Wagenknecht] ist offen, nach dem
       jüngsten Beschluss des Linken-Vorstands umso mehr. Und trotzdem zeichnet
       sich bereits das Programm einer möglichen Wagenknecht-Partei ab. Nimmt man
       ihre Bücher und Stellungnahmen als Richtschnur, dann setzt Wagenknecht auf
       eine Mischung aus linken, konservativen und nationalen Positionen:
       klassische Sozialstaatspolitik; „Friedenspolitik“, die sich ungeachtet von
       Putins Kriegen um gute Beziehungen zu Russland bemüht; und ein
       gesellschaftspolitisch konservativer Kurs, der sich nicht mit den Rechten
       „immer kleinerer und immer skurrilerer Minderheiten“ aufhält, wie
       Wagenknecht es ebenso plakativ wie polemisch umschreibt. Sie will damit die
       vermeintlich „normale“ Bevölkerung ansprechen, die sie als Opfer
       linksliberaler Eliten und ihres Kosmopolitismus sieht.
       
       Ganz neu ist dieser von Wagenknecht selbst als „linkskonservativ“
       bezeichnete Politik-Mix nicht. Während europäische Linke und
       Sozialdemokraten wie aktuell in Österreich darüber streiten, wie viel
       konservative Rhetorik ihrem Profil guttut, haben sich vielerorts rechte
       Populisten gezielt sozialdemokratischer Rezepte bedient. Politikerinnen wie
       Marine Le Pen greifen längst linke Schlagworte in der Wirtschafts- und
       Sozialpolitik auf und bauen sie zu einem wohlfahrtschauvinistischen
       Nationalismus um. Sie haben sich so als Anlaufstelle für sozialen Protest
       und als Sprachrohr jener etabliert, die sich als Inbegriff „des Volkes“
       verstehen.
       
       Le Pen ist längst nicht das einzige Beispiel. Besonders verbreitet ist die
       Melange aus links und rechts, national und sozial, in jenen Ländern Mittel-
       und Osteuropas, die Wagenknechts Erfahrungen mit einer
       liberal-kapitalistischen Transformation teilen. In vielen
       postsozialistischen Gesellschaften war es in den 1990er Jahren unerheblich,
       ob die Reformer aus dem postkommunistischen oder „bürgerlichen“ Lager
       stammten – sie betrieben eine Transformationspolitik, die ihren
       Bevölkerungen mehr Rechte und Freiheiten brachte, aber auch erhebliche
       soziale Probleme verursachte. In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger
       wurde der westliche Liberalismus so zum Inbegriff sozialer, politischer und
       kultureller Zumutungen – ein Bild, das auch Sahra Wagenknecht gerne
       zeichnet.
       
       Die Reaktion war nach der Jahrtausendwende ein Comeback antiliberaler
       Kräfte, die in Form neuer nationalpopulistischer Sammlungsparteien
       auftraten, vereint hinter einer prominenten Führungspersönlichkeit. Die
       bekanntesten von ihnen, Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in
       Polen, haben sich als Antikommunisten hervorgetan, treten aber mit einer
       ökonomischen Rhetorik auf, die aus dem linken Schulbuch zu stammen scheint.
       So versprechen sie ihren Bevölkerungen, sie vor ökonomischer Ausbeutung und
       kulturellen Veränderungen gleichermaßen zu schützen.
       
       Was aber passiert, wenn sich Sozialisten rechter Codes bedienen, zeigt das
       Beispiel Slowakei. Dort gründete der Postkommunist [2][Robert Fico] 1999
       eine neue politische Plattform namens „Smer“ (zu deutsch „Richtung“), die
       sich schnell als maßgebliche Partei links der Mitte etablieren konnte. Mit
       einer sozialdemokratischen Identität und scharfer Kritik an der
       Austeritätspolitik der Vorgängerregierungen gewann Fico die slowakische
       Parlamentswahl 2006 – und regierte fortan, sehr zum Ärger seiner Partner
       aus der europäischen Sozialdemokratie, im Bündnis mit Nationalisten und
       Rechtspopulisten.
       
       Als langjähriger Regierungschef tat sich Fico mit Kritik an der EU und
       ihrer Russland-Politik hervor, versprach, die Slowakei vor Einwanderung zu
       schützen, und machte den amerikanischen Unternehmer George Soros als
       Schuldigen für die politische Instabilität im Land aus. Ganz ähnliche
       Positionen vertritt die Parteivorsitzende der bulgarischen Sozialisten,
       Korneliya Ninova. Auch sie verspricht ihren Wählerinnen und Wählern eine
       Alternative zum liberalen Westen: In der Wirtschaftspolitik will sie zu
       linken Rezepten zurückkehren, in der Gesellschaftspolitik gegen die
       „Gender-Ideologie in den Schulen“ kämpfen – und die „Ehre“ Bulgariens vor
       „fremden Herren“ schützen.
       
       Dass sich Ninova und Fico nicht als Rechte definieren, sondern als
       Sozialisten und Sozialdemokraten, haben sie mit Sahra Wagenknecht gemein.
       Ihre Positionen unterscheiden sich in vielem aber kaum von denen ihrer
       rechtsautoritären Pendants. Dass sich der starke protektive Nationalstaat
       nur dann aufrechterhalten lässt, wenn er sich auf die Interessen der
       „normalen“ Bevölkerung konzentriert, gehört zu ihren gemeinsamen Ideen. Mit
       ihrer Konstruktion einer antiliberalen „Normalität“ tragen sie aber zu
       einem politischen Diskurs bei, in dem sich Populisten mit
       autoritär-nationalistischen Parolen und Verschwörungserzählungen
       gegenseitig zu überbieten versuchen, zulasten gesellschaftlicher
       Minderheiten und des politischen Klimas.
       
       Dass eine Wagenknecht-Partei in Deutschland in eine ähnliche Richtung
       wirken würde, ist weder ausgemacht noch ausgeschlossen. Nach wie vor
       versteht sich [3][Sahra Wagenknecht] als Gegnerin rechter Populisten. Sie
       lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie in den „neuen Arbeiterparteien“,
       wie Wagenknecht sie nennt, ein Vorbild darin sieht, wie sich die Verlierer
       der Modernisierung abholen lassen. Entsprechend übt sie zwar Kritik an der
       Justizpolitik der polnischen Regierung, lobt aber ihre „couragierte
       Sozialpolitik“. Die Kaczynski-Partei habe „das größte Sozialprogramm der
       jüngeren polnischen Geschichte“ verabschiedet, den Mindestlohn erhöht und
       die Arbeitnehmerrechte gestärkt. Entsprechend stellt sie die entscheidende
       Frage: „Welche linke Partei kann in jüngerer Zeit solche Erfolge
       vorweisen?“ Gut möglich, dass sie dies bald mit einer eigenen
       Parteigründung nachzumachen versucht.
       
       14 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Thorsten Holzhauser
       
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