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       # taz.de -- Staatshaushaltsdebatte in Frankreich: Die endlose Vertrauensfrage
       
       > In Frankreich könnten die linken und rechten Oppositionsparteien in den
       > nächsten Tagen den Sturz der Regierung einleiten. Neuwahlen sind erst im
       > Juli 2025 möglich.
       
   IMG Bild: Michel Barnier am 2. Dezember 2024 in der französischen Nationalversammlung nach seiner Rede
       
       Paris taz | Die linke Neue Volksfront (NFP) und das rechtspopulistische
       Rassemblement National (RN) haben am Montag je einen Misstrauensantrag
       [1][gegen die Regierung] eingereicht. Voraussichtlich am Mittwoch oder
       spätestens am Donnerstag müssen die Abgeordneten der Nationalversammlung
       darüber abstimmen. Und falls die eigentlich verfeindeten
       Oppositionsfraktionen von links und rechts für den einen oder anderen
       Antrag gemeinsam gegen [2][Premierminister Michel Barnier] votieren, muss
       dieser seinen Rücktritt einreichen. Er ist erst seit dem 5. September im
       Amt.
       
       Mit einem Fernsehauftritt auf mehreren Sendern wollte Barnier nochmals an
       das Verantwortungsbewusstsein aller Parteien appellieren. Sein Argument
       lautet: Ich oder das Chaos! Schon in der vergangenen Woche hatte er in
       einem Mediengespräch zu bedenken gegeben, ein Sturz der Regierung werde dem
       Ruf Frankreichs schaden und „Turbulenzen“ auf den Finanzmärkten auslösen,
       die das Land teuer zu stehen kommen würden.
       
       Da die RN-Abgeordnete und mehrfache Präsidentschaftskandidatin [3][Marine
       Le Pen] bereits angekündigt hat, dass ihre Fraktion dieses Mal den Sturz
       der Regierung unterstützen wolle, wird das Szenario eines Abgangs der
       Regierung Barnier hingegen immer wahrscheinlicher. Noch kann dieser eine
       kleine Hoffnung hegen, dass die Linke bloß separat für ihren
       Misstrauensantrag und die extreme Rechte ebenfalls getrennt für ihren
       Vorstoß stimmen könnte. Am Montag hatte der RN-Parteivorsitzende Jordan
       Bardella explizit erklärt, falls nicht ein „Wunder“ geschehe, werde seine
       Partei in der Vertrauensfrage gegen Barnier in einer „unheiligen Allianz“
       mit den gegnerischen linken Oppositionsfraktionen votieren.
       
       ## Barnier hat sich erpressen lassen
       
       Bisher konnte der konservative Premierminister auf eine stillschweigende
       Duldung seitens der Rechtspopulisten rechnen. Mehrfach musste er dafür
       Zugeständnisse oder wenigstens Gesten machen, um diese Schonzeit zu
       verlängern. Diese hatte in Wirklichkeit die Form einer öffentlichen
       Erpressung, auf die Barnier aber einging, um seine Regierung jeweils über
       die Runden zu retten.
       
       Erneut hatte er in den letzten Tagen nochmals – jetzt aber offenbar
       vergeblich – versucht, mit sozialen Konzessionen in der Haushaltspolitik
       die RN-Abgeordneten für ein weiteres Stillhalten zu gewinnen. Er versprach,
       die staatlich kontrollierten Energietarife im kommenden Jahr nicht zu
       erhöhen, und auch die öffentliche Krankenversicherung werde wie bisher die
       Medikamente vergüten und in diesem Bereich keine zusätzlichen Einsparungen
       zulasten der Verbraucher vornehmen.
       
       Dies sollte weniger die Parteipolitiker als die Wählerbasis besänftigen,
       die über die von Barnier geplante Sparpolitik im hoch verschuldeten
       Frankreich wütend ist. Eine klare Mehrheit der Sympathisanten, sowohl der
       Linken wie der Rechten, wünscht laut Umfragen die Absetzung der Regierung.
       Barnier wusste darum bereits, dass seine wenigen Tage im
       Matignon-Regierungspalast wohl gezählt sind. Mit der Entscheidung, mangels
       Alternative den unpopulären Artikel 49.3 zu verwenden, leitete er selber
       den Countdown für seinen Abschuss ein.
       
       Zu dieser Situation war es gekommen, weil er den Entwurf zur Finanzierung
       der Sozialversicherungen ohne Abstimmung im Parlament durchdrücken wollte,
       wie ihm das der Verfassungsartikel 49.3 erlaubt. Eigentlich blieb ihm
       nichts anderes übrig, denn seine Mitte-rechts-Koalition aus Macronisten und
       Konservativen verfügt in der Nationalversammlung nicht über eine Mehrheit.
       Ein paarmal war das noch glimpflich verlaufen bei einigen Entscheiden über
       Sachvorlagen, bei denen sich die Rechtspopulisten der Stimme enthalten
       hatten und die Koalition so eine relative Mehrheit erreichen konnte. Etwas
       anderes ist nun die Vertrauensfrage, bei der es ums Ganze geht.
       
       ## Opposition macht Ernst
       
       Wenn eine Regierung mangels Mehrheit den Artikel 49.3 einsetzt, bleibt der
       Opposition der Misstrauensantrag zum Sturz der Regierung als einzige Replik
       auf diese Übermacht der staatlichen Exekutive. Für beide Blöcke der
       Opposition, die unablässig die Politik von Barnier und überhaupt seine
       Legitimität als Regierungschef infrage gestellt hatten, wird es zu einer
       Frage der eigenen Glaubwürdigkeit, in diesem Fall mit dem Mittel der
       Vertrauensfrage Ernst zu machen.
       
       Eine andere Frage ist es, was die Opposition dabei zu gewinnen hätte. Keine
       Fraktion oder Allianz hat die Aussicht, eine regierungsfähige Mehrheit zu
       bilden. Drei Blöcke – linke NFP, die Koalition von Macronisten und
       Konservativen und die Rechtspopulisten (RN plus Eric Ciottis
       Ultrakonservative) – schaffen eine Art Pattsituation. Diese
       Kräfteverhältnisse in der Nationalversammlung seit dem Sommer werden auch
       nach dem Sturz der Regierung bleiben. Denn Neuwahlen nach einer Auflösung
       der Parlamentskammer sind erst 12 Monate nach der letzten Wahl möglich,
       also frühestens im Juli 2025. Bis dahin bleibt Frankreich in jedem der
       vorstellbaren Szenarien in einer Regierungskrise.
       
       3 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
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