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       # taz.de -- Stadtbäume im Klimawandel: Zu jung für die Säge
       
       > Friedrichshain-Kreuzberg experimentiert mit Pflanztechniken, um
       > Straßenbäume länger leben zu lassen. Eigentlich ist das finanziell nicht
       > zu stemmen.
       
   IMG Bild: In Berlin werden immer mehr Bäume gefällt, die zwar gesund aussehen, aber innere Schäden haben
       
       Berlin taz | Dort, wo die Bergmannstraße vom Mehringdamm abgeht, direkt vor
       der vielbesuchten Kreuzberg-Apotheke, steht ein unförmiger Busch am
       Straßenrand. Wer genauer hinsieht, erkennt: Das grüne Etwas war einmal ein
       stattlicher Baum, dessen Stumpf nun verzweifelt Triebe produziert. Die alte
       Silberlinde musste im vergangenen Winter gefällt werden, ihr Stamm war im
       Inneren von einem Pilz befallen und verfault. Im folgenden Frühjahr, noch
       vor dem Ausschlagen der Nottriebe, pflanzte jemand in den ausgehöhlten
       Stumpf ein paar Traubenhyazinthen und Narzissen, die dort tatsächlich
       anwuchsen und blühten – ein irgendwie anrührendes Bild.
       
       Für Uneingeweihte hatte die Linde durchaus gesund ausgesehen. Immer wieder
       kommt es in Berlin zu Fällungen stattlicher Bäume, die keinen kranken
       Eindruck machen, und oft wenden sich Anwohnende dann mit einer Mischung aus
       Verständnislosigkeit und Verzweiflung an die Behörden oder die Medien. Für
       Anja Henke, die im Straßen- und Grünflächenamt Friedrichshain-Kreuzberg das
       sogenannte Baummanagement leitet, ist das durchaus nachvollziehbar. „Leider
       hat die Vitalität, also das äußere Erscheinungsbild, nichts mit der
       Verkehrssicherheit zu tun“, erklärt sie. Die wasserleitenden Gefäße eines
       Baumes befänden sich in den äußeren Schichten, „darum kann er gesund
       aussehen, obwohl er im Inneren völlig faul und hohl ist.“
       
       Das Absterben ausgewachsener Bäume ist ein berlinweites Problem, das
       keineswegs nur Friedrichshain-Kreuzberg betrifft. Allerdings häufen sich in
       den dicht besiedelten innerstädtischen Stadtteilen die [1][Stressfaktoren,
       die Bäume letztendlich anfälliger für Krankheiten machen: Trockenheit] und
       „Hitzeinseln“, die sich über großen Asphaltflächen und durch die
       Abstrahlung von Gebäuden bilden, aber auch Streusalz oder mechanische
       Beschädigungen der Rinde.
       
       Hinzu kommt das, was [2][der Leiter des Grünflächenamts Felix Weisbrich]
       eine „sehr unbefriedigende Bodengründung“ nennt: Optimal wäre es für jeden
       Baum, wenn seine Wurzeln so viel Raum bekämen, wie seine Krone an Volumen
       hat. Die bittere urbane Realität aber heißt: Im Boden ist nur ein Bruchteil
       dieses Platzes vorhanden. Zudem handelt es sich oft um stark verdichteten
       Boden, der mit Kriegsschutt und kontaminierenden Stoffen belastet ist.
       
       ## Ist 15, sieht aus wie 5
       
       Aus diesen Gründen müssen inzwischen auch immer mehr jüngere Bäume gefällt
       werden. Im Bezirk stehen rund 40.000 Bäume auf öffentlichem Gelände, doch
       besonders dramatisch ist die Lage der 16.000 Straßenbäume: Ihr
       Durchschnittsalter beträgt heute noch 40 Jahre, die wegen fortgeschrittener
       Schädigung zu fällenden Bäume sind aber im Schnitt lediglich 28 Jahre alt.
       Wobei sie manchmal noch viel jünger wirken, weil ihr Wachstum so
       eingeschränkt ist. „Manche Bäume sehen aus, als seien sie 4 oder 5 Jahre
       alt, in Wirklichkeit sind es 15 Jahre“, sagt Anja Henke.
       
       Die Baumwissenschaftlerin – sie hat in Göttingen Arboristik studiert – kann
       auch am Abstand der sogenannten Internodien die gehemmte Entwicklung
       geschwächter Bäume erkennen: Je kürzer diese Sprossknoten von einander
       entfernt sind, aus denen an einem Zweig die Blätter wachsen, desto weniger
       hat ein Baum in den Wachstumsperioden an Substanz zugelegt.
       
       Zwar könnte es immer noch schlimmer kommen – SGA-Leiter Weisbrich hatte für
       das vergangene Jahr die Fällung von 2.000 Bäumen im Bezirk prognostiziert,
       am Ende waren es „nur“ 900 –, aber aus Sicht der zuständigen Behörden kann
       es so wie jetzt nicht weitergehen. Allein schon, weil der Hitze- und
       Trockenstress über die Jahre zunehmen wird. Das Rezept im grün regierten
       Friedrichshain-Kreuzberg lautet deshalb jetzt: Platz schaffen, „nachhaltige
       Baumstandorte“ anlegen, die dem einzelnen Baum ein Vielfaches an Raum im
       Boden geben und ihm gut durchwurzelbares Erdreich zur Verfügung stellen.
       
       Rückblende: Im April stehen einige Männer in grünen Overalls in einer
       rechteckigen Grube auf dem breiten Mittelstreifen der Yorckstraße, direkt
       gegenüber der grauen Front des „Möckernkiez“-Quartiers. Rund 30 Kubikmeter
       Erdreich haben die Mitarbeiter einer Firma für Garten- und Landschaftsbau
       ausgebaggert. Einer der vorbeirauschenden SUVs würde locker in das Loch
       passen, aber tatsächlich kommt am Ende nur ein schmales Bäumchen hinein,
       eine Ungarische Eiche.
       
       ## Feuchtigkeitsgel für die Wurzeln
       
       Vorher aber werden noch einige Kunststoffrohre hineingelegt, über die
       später ausreichend Wasser und Sauerstoff an die Wurzeln des Baumes gelangen
       können. Außerdem setzen die Arbeiter dem Mutterboden, den sie einbringen,
       ein spezielles Granulat zu, das in einem Sack bereitsteht und wie
       Kristallzucker aussieht. Es speichert Wasser wie ein Gel und versorgt den
       Baum in den kritischen ersten Jahren mit Extra-Feuchtigkeit.
       
       Anja Henke ist vor Ort, sie zeigt auf eine helle Schicht am Grund der
       Grube: „Das ist Flugsand, da geht der Baum mit seinen Wurzeln nicht rein.“
       Eine typische Bodenbeschaffenheit in der eiszeitlich geprägten Berliner
       Region, die ein optimales Anwachsen verhindert. Die kleine Eiche soll am
       Ende aber deutlich länger leben und stehen bleiben können als die
       benachbarten Linden. Aus Henkes Sicht sind die neuen Bedingungen noch immer
       nicht optimal: „Die Pflanzgrube entspricht in ihrer Größe nicht dem
       künftigen Kronenvolumen des Baumes, aber die Verdunstungsfläche und der
       wurzelverfügbare Raum werden in einem deutlich realistischeren Verhältnis
       zueinander stehen“, sagt sie.
       
       Eine besondere Herausforderung wird beim Blick in die Pflanzgrube sichtbar:
       Überall im Untergrund verlaufen Leitungen – Strom, Wasser, Gas, Telefonie,
       teils uralt und verrostet. Manche sind in den Unterlagen des Bezirks gar
       nicht verzeichnet und können auf die Schnelle auch nicht zugeordnet werden.
       Es wird also vorsichtig um die Rohre herum gegraben und versucht, eine
       gewisse Distanz zum künftigen Wurzelwerk einzuhalten. Das geht nur mit
       Kompromissen: „Eigentlich bräuchte es 2,50 Meter Mindestabstand vom Baum zu
       allen Leitungen. Aber wenn das konsequent umgesetzt würde, gäbe es in
       Berlin keinen einzigen Straßenbaum“, sagt Henke.
       
       Sechs Bäume an der Yorckstraße, rund 20 weitere in anderen Straßen des
       Bezirks – das ist in diesem Jahr die Bilanz des zukunftsfähigen und
       klimaresilienten Pflanzens. Es läuft als Pilotprojekt, bei dem die Kosten
       pro Baum das übliche Maß um ein Vielfaches überschreiten. Wenn Henke oder
       Weisbrich über ihre Strategie informieren, zeigen sie oft eine
       Kostenaufstellung, die sich in der Summe – inklusive der fünfjährigen
       Pflege des Jungbaums – auf rund 12.000 Euro beläuft.
       
       Für sein Baummanagement erhält der Bezirk laut Felix Weisbrich gut 2
       Millionen Euro aus dem Landeshaushalt. Doch mit der neuen Pflanzmethode
       [3][käme man beim derzeitigen Bedarf an Neupflanzungen auf „10 bis 20
       Millionen Euro“ pro Jahr]. Am Ende dürfte also deutlich weniger
       nachgepflanzt werden – dafür würden diese Bäume viel älter als ihre
       derzeitigen Artgenossen.
       
       Das birgt Konfliktpotenzial für die kommenden Jahre: Viele Anwohnende
       werden schwer nachvollziehen können, dass sie ausgerechnet im Dienste der
       Nachhaltigkeit auf den Schatten und Kühle spendenden Baum vor ihrem Haus
       verzichten müssen, wenn auch vielleicht nur vorläufig. Aber auch wie die
       Entwicklung der allgemeinen Baumgesundheit weitergeht, ist offen: „Das
       Stadtbild wird sich verändern, und das kann sehr schnell gehen“, sagt Anja
       Henke, „wir wissen zum Teil noch gar nicht, mit welchen Krankheiten wir es
       da zu tun haben und welche Schaderreger noch dazukommen werden, wenn wir
       0,2, 0,3 oder 0,5 Grad mehr haben.“
       
       Auch der BUND-Baumschutzexperte Christian Hönig hält die Versuche des
       Bezirks für die richtige Vorgehensweise: „Wir müssen jetzt unglaublich viel
       experimentieren“, findet er, nur so lasse sich auf lange Sicht der heutige
       Baumbestand halten. Es „brenne an allen Ecken und Enden“, warnt Hönig:
       „Neupflanzungen gehen nicht so gut an, Altbäume sterben aus Gründen ab, die
       man nicht richtig versteht.“ Deshalb fordert auch er eine deutlich bessere
       finanzielle Ausstattung der Bezirksämter für ihr Baummanagement.
       Anderenfalls sehe die Zukunft nicht gut aus: „Bäume sind extrem langsame
       Lebewesen – und der Punkt bei der Klimakrise ist die extreme
       Beschleunigung, der wir die Welt unterwerfen.“
       
       26 Jul 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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