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       # taz.de -- Start der Radsport-WM in Flandern: In der Heimat des Radsports
       
       > Die 100. Rad-WM wird im belgischen Flandern ausgetragen. Entsprechend
       > groß sind die Erwartungen vor Ort, auch wenn es im Team einigen Ärger
       > gibt.
       
   IMG Bild: WM-Mitfavorit und Teamkapitän Belgiens Wout van Aert bei seiner Fahrt zur olympischen Silbermedaille
       
       Die Erwartungen an die am Sonntag beginnende Rad-WM in Flandern sind enorm.
       Die Spannung steigt. Denn es kündigt sich einer der größten und
       meistbesuchtesten Open-Air-Events in Pandemiezeiten an. „Allein in Leuven
       erwarten wir zwischen 200.000 und 400.000 Menschen.
       
       Bei schönem Wetter kann sich das noch erhöhen“, blickt WM-Mitorganisator
       Tomas Van den Spiegel auf die Straßenrennen zwischen Freitag und Sonntag
       nächster Woche in der Gegend um die einstige Textil- und heutige
       Brauereimetropole in Flandern voraus. Zuvor gibt es von Sonntag bis
       Mittwoch rings um Brügge die Zeitfahren in den Nachwuchs- und
       Elitekategorien bei Frauen und Männern. Mit einer halben Million Menschen
       auf den Beinen darf man rings um die Strecken also rechnen. Maskenpflicht
       gibt es nicht. Van den Spiegel, auch Organisator [1][des Traditionsrennens
       Flandernrundfahrt], hofft auf „die Vernunft der Menschen“.
       
       Es ist eine riskante Kalkulation. Denn Vernunft ist im Radsport nicht die
       hervorstechendste Eigenschaft. Es handelt sich um einen Erschöpfungssport,
       bei dem am Ende der gewinnt, der mit höllischen Schmerzen in den Beinen und
       Sauerstoffknappheit im Blut zur effizientesten Entscheidung fähig ist. Für
       die Fans am Rande, emotional entgrenzt durch Bierkonsum beim langen Warten,
       höheren Puls auch durch vorher selbst per Rad zurückgelegte Kilometer und
       aufgepeitscht durch Gleichgesinnte ringsum, ist Vernunft ohnehin keine
       relevante Kategorie. Radsport befördert den Drang ins Freie, raus aus den
       einengenden Gefilden von Wohnung, Arbeitsstätte und Schule.
       
       Im Draußensein auf dem Rad sind die Flamen sowieso gut. „Cycling is coming
       Home“ steht daher auch über einer Werbebroschüre der flämischen
       Tourismusbehörde anlässlich der WM. Die Flamen erfanden zwar nicht das Rad.
       Das waren vor allem Deutsche und Briten mit Laufradpionier Karl von Drais,
       dem Arzt, Ingenieur und Bergbaurat Joseph von Baader, der 1825 als erster
       eine Tretkurbel ans Rad bauen ließ, sowie John Kemp Starley, der 1884 mit
       seinem sogenannten Sicherheitsniederrad das erste Mal ein Fahrrad
       vorstellte, das mit den heutigen Modellen bereits große Ähnlichkeiten
       aufwies: mit zwei kleinen Rädern vorn wie hinten, Tretkurbel und
       Kettenantrieb.
       
       ## Älteste Radrennen
       
       Als die Räder dann aber da waren, bereiteten vor allem die Bewohner von
       Flandern und der benachbarten Wallonie dem neuen Fortbewegungsmittel den
       roten Teppich aus. Das älteste überhaupt noch ausgetragene Straßenrennen
       ist Lüttich – Bastogne – Lüttich, 1892 zuerst ausgetragen und mit Leon Houa
       von einem Belgier gewonnen, vor zwei weiteren Landsleuten übrigens. Houa
       gewann auch in den beiden folgenden Jahren.
       
       In diesem Jahr siegte dort [2][Tourchampion Tadej Pogačar]; der Slowene,
       gut vertraut mit kleinen giftigen Anstiegen der Gegend, ist auch ein
       Favorit für diese WM.
       
       Andere große Rennen mit langer Geschichte sind die Flandernrundfahrt, die
       1913 das erste Mal bestritten und von einem Belgier gewonnen wurde. Paul
       Deman, der im 1. Weltkrieg als Kurier arbeitete und dabei Nachrichten in
       seinem Goldzahn verbarg. Bekannt sind auch Gent – Wevelgem (Erstaustragung
       1934 ebenfalls mit belgischem Sieg) und der Pfeil von Brabant. Den „Pfeil“
       gibt es zwar erst seit 1961 – Sieg durch den Italo-Belgier Pino Cerami –
       einige Hügel dieses Halbklassiker-Parcours wurden aber in den
       Streckenverlauf der Straßenrennens dieser WM aufgenommen.
       
       Zur Radheimat macht Flandern neben dem Sport auch die alltägliche Nutzung
       dieses Fortbewegungsmittels. Die Tourismusbehörde Flanderns trug zur WM
       eine Reihe beeindruckender Fakten zusammen. So fährt jeder zweite Flame,
       jede zweite Flämin über alle Altersgruppen gerechnet mindestens einmal pro
       Woche Rad. Die Durchschnittsfamilie hat drei Räder im Haus. 2.547
       kmsogenannte Fahrradhighways hat Flandern – bei etwa 13.000 km2 Fläche und
       6,6 Millionen Einwohnern.
       
       Berlin, mit 891 km2 Fläche und 3,6 Millionen Einwohnern viel höher
       verdichtet hat bei seinem Straßennetz von insgesamt 5.342 km nur 1.120 km
       Fahrradwege, viele davon eher für Mountainbikes geeignet, mit
       Schlaglöchern, Rissen, Dellen und nicht selten zugeparkt mit Autos. Da
       kommt es fast schon einer Heldentat gleich, dass laut Senatsangaben 18
       Prozent aller Wege per Rad zurückgelegt werden. In Flandern, das auch
       ländliche Gebiete umfasst, werden 16 Prozent aller Wege per Rad
       zurückgelegt; im Wettbewerb von Flächenländern liege man damit weltweit an
       zweiter Stelle hinter Spitzenreiter Niederlande.
       
       ## Zwist im belgischen Team
       
       Von all dem profitiert wiederum der Sport. Bereits zum siebten Mal gibt es
       eine Rad-WM in Flandern. Die allererste WM überhaupt fand vor genau 100
       Jahren im August 1921 im vom 1. Weltkrieg weniger lädierten Kopenhagen
       statt. Die erste WM in Belgien gab es 1930 im wallonischen Lüttich. 20
       Jahre später war Morslede erster flämischer WM-Gastgeber. Und auf dem
       Klassikerparcours gewann mit Alberic Schotte nicht nur einer der damals
       besten Klassikerjäger überhaupt, sondern auch ein gebürtiger Flame.
       
       An solche Momente will das heutige Gastgeberteam anknüpfen. Dort hängt
       angesichts konkurrierender Interessen der Haussegen aber ziemlich schief.
       Philippe Gilbert, Weltmeister von 2012, und Greg van Avermaet,
       Olympiasieger von 2016, wurden einfach ausgebootet vom neuem Teamchef Sven
       Vanthourenhout. Der hatte zwar schon angekündigt, dass er in der Zukunft
       den beiden Altstars einen schweren Tag bescheren müsse, wenn er sie nicht
       zu Welttitelkämpfen einlade.
       
       Dass dieser Tag bereits vor der Heim-WM anbrach, verwundert aber doch. Und
       die Betroffenen sind schwer verärgert. „Ich bin schon WM-Rennen gefahren,
       deren Kurs mir nicht so lag wie dieser. Das ist einfach enttäuschend“,
       teilte van Avermaet mit. Und Gilbert meinte: „Ich verstehe das alles nicht.
       Wout van Aert ist eindeutig der Beste von uns. Aber ich hätte ihm gern
       geholfen bei diesem Radsportfesttag in unserer Heimat.“
       
       Selbst im Team der Verbliebenen gibt es Zoff. [3][Multitalent Wout van
       Aert] ist zwar der nominelle Kapitän. Der ehrgeizige Jungstar Remco
       Evenepoel, bei der Europameisterschaft vor Kurzem im Finish um den Titel
       noch niedergesprintet vom Italiener Sonny Colbrelli, macht sich aber nicht
       die Mühe, eigene Ambitionen beim WM-Rennen zu verstecken. „Natürlich ist
       Wout der Chef, und jeder arbeitet ihm zu“, lautete noch sein braves
       Eingangsstatement. „Aber man weiß nie, was im Rennen alles geschieht, ob er
       einen schlechten Tag hat oder stürzt. Ganz viel kann passieren“, orakelte
       er.
       
       Bei den Olympischen Spielen sollte Evenepoel bereits für van Aert fahren.
       Er riskierte aber eine Attacke ohne Absprache. Im Finale war er dann
       ausgepumpt. Und viele belgische Radsportfans lasten es Evenepoel an, dass
       van Aert in Tokio nur die Silbermedaille holte, Gold aber an den
       Ecuadorianer Richard Carapaz ging.
       
       ## 6,6 Millionen Radsporttrainer
       
       Auf diese Zwistigkeiten im belgischen Team kann die Konkurrenz jetzt
       hoffen. Die Gastgeber setzt zudem unter Druck, dass sie bei den Männern die
       erfolgreichste Nation im Regenbogentrikot-Sammeln sind. 26 Titel holte
       Belgien in der 100-jährigen WM-Geschichte, zwei Belgier gewannen sogar
       gleich drei Mal – Eddy Merckx und Rik Van Steenbergen. Fünf Belgier, davon
       vier Flamen, schafften es immerhin zwei Mal.
       
       Geschichte kann beflügeln, sie kann aber auch ein Ballast sein.
       Hunderttausende werden ab Sonntag dieses Schauspiel vor Ort verfolgen.
       „Radfahren steckt in der flämischen DNA, alle sind davon angesteckt, vom
       Sechsjährigen, der mit dem Rad zur Schule fährt, über den Geschäftsmann,
       der nach Arbeitsende noch seine Kilometer abspult und den Ministern, die
       während der Kabinettssitzungen Radrennen gucken bis zu Wissenschaftlern,
       die neue Technologien für das Rad entwickeln“, jubilierte Flanderns
       Marketingfachfrau Gemmeke de Jongh.
       
       Hat Deutschland 83 Millionen Bundestrainer im Fußball, so verfügt Flandern
       über 6,6 Millionen Radsporttrainer. Deren Erwartungen zu erfüllen, ist
       weder für die nationale Auswahl noch für die Organisatoren eine leichte
       Sache. Letztere schrauben die eigenen Ansprüche auch mächtig hoch. Van den
       Spiegel sagt: „Wir hoffen, dass die Leute Leuven nach der WM verlassen und
       sagen: ‚Wir haben die schönste WM der Geschichte erlebt.‘“
       
       19 Sep 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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