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       # taz.de -- Streit über höhere Benzinpreise: Tiefergelegter Verstand
       
       > Der geschröpfte kleine Autofahrer ist wieder da. Doch wissenschaftliche
       > Daten belegen: Von billigem Sprit profitieren vor allem Reiche.
       
   IMG Bild: Eine verkehrspolitische Fata Morgana: Gutverdiener pendeln auf doppelt so langen Strecken
       
       Beim Auto hört der Spaß auf. Das war bei den Deutschen schon immer so.
       Bleifuß, Benzin im Blut und tiefergelegter Verstand bei Tempo 180. Aber
       stimmt das überhaupt noch?
       
       Nein, es stimmt immer weniger. Die Liebe zum „Wagen aus Eisen mit vier
       Rädern, die viel schneller laufen als jemals ein Pferd“ (der chinesische
       Mandarin Kao-tai) ist erloschen. Weniger Führerscheine, weniger Autobesitz,
       weniger PS-Neurosen – das ist bei den Jüngeren unübersehbar. Der fossile
       Automobilismus hat mit Stau, Gestank und Klimakrise, mit Flächenfressen und
       Stadtzerstören seine Reize verloren, der Lack ist ab. Es gibt neue, andere
       Lifestyle-Produkte, auch das Fahrrad ist eines.
       
       In der Politik ist das noch nicht angekommen. Für Union, SPD, FDP und
       offenbar sogar für die Linke gilt das alte Narrativ. Das Auto ist die
       glitzernde Wunschmaschine und der Autofahrer ein unter Naturschutz
       stehender Akteur, der vor dem Umweltzirkus grüner Latzhosenbrigaden
       beschützt werden muss.
       
       Der groteske Streit um die Benzinpreise bestätigt die alte libidinöse
       Bindung zwischen Politik und Autofahrern und Autoindustrie. Kaum hat
       Annalena Baerbock ihre Hochrechnung von 16 Cent Spritpreiserhöhung durch
       die – von der Bundesregierung – eingeführte CO2-Bepreisung ausgesprochen,
       stacheln die Autoparteien reflexartig die Benzinwut an.
       
       Sie lassen den prototypischen Fabrikarbeiter mit dem mühsam abbezahlten VW
       Polo wie Kai aus der Kiste auferstehen: Der von steigenden Benzinpreisen
       geprügelte Familienvater wohnt mit vier Kindern draußen auf dem Land und
       quält sich täglich im Kleinwagen durch die Staus zur Arbeit, wo er am
       Fließband Schrauben dreht und abends erschöpft nach Hause fährt, um dort
       den Cent umzudrehen. Deshalb: Billiger Sprit um jeden Preis.
       
       ## Eine verkehrspolitische Fata Morgana
       
       Doch diese Figur ist ein nach Belieben instrumentalisiertes Phantom,
       [1][eine verkehrspolitische Fata Morgana]. Die automobile Wirklichkeit
       sieht anders aus. Die von [2][Verkehrswissenschaftlern erhobenen Daten]
       belegen eindrucksvoll, dass nicht die kleinen Leute, auch nicht die Frauen,
       sondern vor allem einkommensstarke Männer von niedrigen Spritpreisen und
       Pendlerpauschale profitieren.
       
       Gutverdiener wie Manager und Ingenieure pendeln auf doppelt so langen
       Strecken wie Menschen mit einfacher beruflicher Tätigkeit. Die externen
       Kosten des Autos und sogar die Subventionen zahlen dagegen diejenigen, die
       gar kein Auto haben. Die gibt es! Selbst am Audi-Standort Ingolstadt
       besitzen nur 48 von 100 Menschen ein Auto.
       
       Und es zahlen auch die, die wenig fahren: Frauen, Alte, ärmere
       Bevölkerungsschichten. Männer fahren sehr viel längere Distanzen und fahren
       generell mehr Auto. Alte und Arbeitslose fahren weniger. Wer wenig verdient
       und damit auch wenig oder keine Steuern zahlt, profitiert kaum oder gar
       nicht vom Steuerabzug durch die Pendlerpauschale.
       
       ## Die Pendlerpauschale nutzt Reichen
       
       Die weiten Strecken fahren nicht die Armen, sondern die Reichen, die heftig
       vom Staat auf Kosten der anderen für jeden Kilometer steuerlich erheblich
       subventioniert werden. Das Wunderbare an der Sache ist nun, dass bei
       steigenden Benzinpreisen die Politik wegen der Ärmeren interveniert, gerne
       gesehen von den Begüterten und Subventionierten, die sofort noch mehr
       Subventionen einfordern. Genannt wird dieser Irrsinn „soziale
       Gerechtigkeit“.
       
       Umweltpolitisch ist es das Phänomen „linke Tasche, rechte Tasche“. Der
       CO2-Preis macht die Klimakiller teurer, um sie zurückzudrängen und die
       Klimaziele zu erreichen. Die Entfernungspauschale und billiges Benzin
       bewirken das Gegenteil, sie sind verkehrstreibend und belohnen lange
       Fahrten. Dass diese Subventionen auch noch unsozial sind, haben offenbar
       nur die Grünen bemerkt, die allerdings unter dem Trommelfeuer der letzten
       Tage defensiv agieren, wie der Parteitag zeigte.
       
       Dass selbst die Automobilindustrie und IG Metall ein Stück weiter sind,
       scheint die Politik kaum wahrzunehmen. Daimler-Konzernchef Ola Källenius
       steht „ganz persönlich hinter dem CO2-Preis“, er lobt die Fahrradstadt
       Kopenhagen und erklärt mit Blick auf den Kapitalmarkt: „Wenn du keinen
       glaubwürdigen Weg Richtung Klimaneutralität hast, wird (er) dir in Zukunft
       kein Geld zur Verfügung stellen.“
       
       Noch drastischer argumentiert der Kasseler VW-Betriebsratschef Carsten
       Bätzold: „Es geht letztlich um die Grundsatzfrage, ob es so viele Autos
       braucht. Geht es darum, das Klima zu schützen oder das Geschäftsmodell der
       Autoindustrie weiter voranzutreiben?“ Mit der aktuellen Verkehrsdichte
       Europas und der USA „werden wir den Planeten nicht retten; dann können wir
       den Laden zumachen“. Das ist eine andere verkehrspolitische Tonlage.
       
       ## Jenseits der Windschutzscheibe
       
       Aber: In Umfragen sprechen sich doch [3][75 Prozent der Deutschen gegen
       höhere Benzinpreise] aus. Ja, aber sie hätten auch gegen höhere Preise für
       Busse und Bahnen gestimmt. Man hätte sie auch fragen können, ob das Auto
       weiter subventioniert oder ob der Benzinpreis irgendwann die ökologische
       Wahrheit sagen soll?
       
       Der Streit zeigt, wie wenig Faktenwissen in der Klimapolitik vorhanden ist.
       Die Solidarität aus den Anfängen der Coronapandemie ist bei der viel
       größeren Herausforderung der Klimakrise sowieso wieder verschwunden. Das
       gipfelt in der Forderung von Verkehrsminister Scheuer nach
       CO2-Preis-Bremsen und gemeinsamen Erklärungen mit Olaf Scholz gegen hohe
       Benzinpreise in der Bild-Zeitung. Ungeniert wettern SPD und Union gegen
       ihre eigenen Beschlüsse, unterstützt von Tankstellenwächtern der Linken,
       die bei der Gelegenheit nicht mal günstige Preise für öffentliche Verkehre
       fordern.
       
       Die Wahrheit ist: Eine ökologisch orientierte Klima- und Verkehrspolitik
       und jede neue Autobahn weniger ist nicht nur ein ökologischer, sondern auch
       ein erheblicher sozialer Gewinn, insbesondere durch bessere
       Lebensverhältnisse. Um das zu sehen, muss man freilich die
       Windschutzscheibenperspektive für einen Moment verlassen.
       
       17 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.oekom.de/buch/nachhaltige-mobilitaet-fuer-alle-9783962382797
   DIR [2] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/376/publikationen/2020_pp_verkehrswende_fuer_alle_bf_02.pdf
   DIR [3] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2653.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manfred Kriener
   DIR Helmut Holzapfel
       
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