URI: 
       # taz.de -- Streit um Bürgergeld: Robin-Hood-Status dank Merz
       
       > Mit ihrer Kritik am Bürgergeld tut die Union der Ampel-Koalition einen
       > großen Gefallen. Die halbherzige Reform erscheint nun als progressives
       > Projekt.
       
   IMG Bild: Dank der Union wirkt Hubertus Heil von der SPD wie ein moderner Robin Hood
       
       Diesen Mittwoch beugt sich der Vermittlungsausschuss aus Bundestag und
       Bundesrat über das Streitthema Bürgergeld. Egal welche Lösung sie
       präsentieren werden, ein Gewinner dürfte bereits feststehen: Hubertus Heil.
       Dass die Union das Bürgergeld so ausdauernd attackiert und im Bundesrat
       blockiert hat, ist ein Glücksfall für den SPD-Arbeits- und Sozialminister
       und die Ampel.
       
       Die wütende Kritik der Union schweißt die Koalition aus SPD, Grünen und FDP
       wieder zusammen, macht aus einer mäßig ambitionierten Sozialreform ein
       progressives Projekt und aus Heil eine Art Robin Hood. Der will den Armen
       geben und kämpft dabei gegen den Sheriff von Nottingham aka Friedrich Merz
       und dessen Unions-Truppe.
       
       Eigentlich hatte sich die SPD beim Bürgergeld auf Fundamentalkritik von
       links eingestellt. Denn der lange Abschied von Hartz IV, dessen Krönung im
       Januar die Einführung des Bürgergelds sein soll, gelingt der SPD-geführten
       Ampel nur halbherzig. Zur Erinnerung: Mit der Agenda 2010 und den
       Hartz-IV-Reformen übertrug die SPD unter Gerhard Schröder die neoliberalen
       Dogmen der 90er Jahre auf die Sozialpolitik: Statt den Lebensstandard
       sicherte der Staat Menschen, die arbeitslos wurden, nach einer Schonfrist
       von einigen Monaten nur noch die Existenzgrundlage.
       
       Das hieß: Rücklagen mussten aufgezehrt und zu große Wohnungen geräumt
       werden. Jede Arbeit war besser als keine, wer wiederholt Jobangebote
       ausschlug, dem wurde Geld gekürzt. Wobei fast jeder Job als zumutbar galt.
       Der parallel zu den Sozialreformen ausgebaute Niedriglohnsektor machte es
       möglich.
       
       ## Das Bürgergeld setzt Anreize für Weiterbildung
       
       Die Hartz-IV-Reformen kostete die SPD das Vertrauen ihrer
       Kernwähler:innen und die Kanzlerschaft – und war nicht einmal
       nachhaltig. Viele hangelten sich von Billigjob zu Billigjob und klopften
       schließlich doch wieder beim Jobcenter an. Von den 1,7 Millionen
       arbeitslosen Hartz-IV-Bezieher:innen bezog 2020 fast die Hälfte vier Jahre
       und länger die Grundsicherung. Das Hartz-IV-System erwies sich für viele
       trotz seiner Rigidität als Sackgasse.
       
       Mit dem Bürgergeld will die Ampel nun einen Kulturwandel einleiten: in Not
       geratenen Menschen mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen und sie nicht
       mehr ständig [1][mit der Fuchtel der Sanktionen bedrohen]. Der
       Vermittlungsvorrang in Billigjobs fällt weg, die Jobcenter sollen
       Menschen in gute Arbeit vermitteln und sie dafür fit machen.
       
       Das Bürgergeld setzt Anreize für Weiterbildung und Qualifizierung und nimmt
       in den ersten beiden Jahren Druck raus. Das geschieht nicht nur aus purem
       Altruismus, sondern ist ein Kniefall vor der Realität, sprich einem
       veränderten Arbeitsmarkt mit einem Mangel an Fachkräften.
       
       Andere Versprechen löst die SPD hingegen nicht ein. Noch im Wahlprogramm
       erklärte sie, dass die Regelsätze zu einem Leben in Würde ausreichen und
       absichern müssten, dass eine kaputte Waschmaschine nicht zur untragbaren
       Last würde. Von wegen! Die Regelsätze im Bürgergeld werden weiterhin nach
       dem Armutsschema berechnet und orientieren sich an den Ausgaben des ärmsten
       Fünftels der Gesellschaft.
       
       ## Die Ampel hat Spielraum für Kompromisse
       
       Die 30,57 Euro, die im Bürgergeld künftig für Innenausstattung,
       Haushaltsführung und Haushaltsgeräte vorgesehen sind, reichen nicht für
       eine Reparatur der Waschmaschine. Die geplante Erhöhung der Regelsätze um
       53 Euro gleicht lediglich die Inflation aus. Mit der FDP war eben nicht
       mehr drin, Würde und Teilhabe auch nicht.
       
       Dass die Kritik am Bürgergeld nun vor allem von rechts kommt, lässt solche
       Leerstellen verblassen und auch kleine Verbesserungen umso heller glänzen.
       Der Streit ums Bürgergeld wird zum Kulturkampf um ein Menschenbild: Auf der
       einen Seite die Ampel, die auf Vertrauen und Selbstermächtigung setzt, auf
       der anderen die Union, die Misstrauen sät und den Bedürftigen unterstellt,
       sie seien zu faul zum Arbeiten.
       
       Ungefährlich ist diese [2][Fundamentalkritik] zwar nicht. Die Union hat es
       geschafft, die Debatte so zu drehen, dass nicht mehr über zu niedrige
       Löhne, sondern zu hohe Vermögen von Arbeitslosen geredet wird.
       
       Die Ampel hat dreimal bessere Karten, den Diskurs für sich zu entscheiden.
       Denn erstens hat sie ein Reformprojekt, während die Union keins hat,
       sondern lediglich Rückkehr zu Hartz IV will. Die Ampel hat zweitens noch
       Spielraum für Kompromisse, und zwar bei allen von der Union inkriminierten
       Punkten, etwa den angeblich zu hohen Schonvermögen und den zu laschen
       Sanktionen.
       
       ## Auf Andrea Nahles ist Verlass
       
       In Wahrheit besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung kaum Vermögen und
       kommt auch nicht auf jene 60.000 Euro, die im Bürgergeld geschont werden
       sollen. Auch bei Sanktionen hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2019
       eine Schranke gesetzt und unverhältnismäßig hohe Leistungskürzungen für
       verfassungswidrig erklärt.
       
       Und drittens kann sich die Ampel auf die Bundesagentur für Arbeit
       verlassen. An der [3][Spitze der Behörde, die die Reform umsetzen wird,
       steht mit Andrea Nahles] jene Frau, die 2018 als SPD-Vorsitzende
       ankündigte: Wir werden Hartz IV hinter uns lassen. Das Bürgergeld wird
       kommen. Robin Hubertus Hood wird siegen. Nur die Armen, die bleiben erst
       mal weiter arm.
       
       19 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ampel-kippt-Hartz-IV-Sanktionen/!5855948
   DIR [2] /Veto-der-Unionslaender-beim-Buergergeld/!5892148
   DIR [3] /Neue-Chefin-der-Agentur-fuer-Arbeit/!5832006
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Friedrich Merz
   DIR CDU/CSU
   DIR Bürgergeld
   DIR Hartz IV
   DIR GNS
   DIR CDU
   DIR Hartz IV
   DIR Friedrich Merz
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Bürgergeld
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wirtschaftskompetenz der CDU: Deutschland sucht den Streber-Merz
       
       Wäre es nach dem CDU-Parteichef gegangen, dann müsste er sich jetzt an
       seinen Adventskerzen wärmen. Warum er das Streber-Gen verlor und wie es um
       Welpe Olaf steht.
       
   DIR Sozialreform der Ampel: Bürgergeld kurz vor Go
       
       Nach der Einigung im Vermittlungsausschuss stimmen Bundestag und Bundesrat
       erneut über die Reform ab. Die Grünen rechnen mit großer Mehrheit.
       
   DIR Kompromisse zum Bürgergeld: Mehr Sanktionen, weniger Karenzzeit
       
       Im Streit ums Bürgergeld gibt es Bewegung. Zuvor hatte der Sozialverband
       VdK eine Warnung ausgesprochen.
       
   DIR Podcast „Bundestalk“: Der Streit ums Bürgergeld
       
       Die Ampel will Hartz IV abschaffen und durch ein besseres Modell ersetzen.
       Doch die Union stellt sich dagegen. Warum und wem nützt das?
       
   DIR Union zum Ampel-Projekt: Kulturkampf ums Bürgergeld
       
       Ein Kompromiss beim Bürgergeld scheint mit den Unionsparteien nicht möglich
       zu sein. Deren Argumente sind nicht nur falsch, sondern heuchlerisch.
       
   DIR Abschied von Hartz IV: Inflation frisst Bürgergeld
       
       Mehr Weiterbildung, weniger Sanktionen: 2023 soll das Bürgergeld Hartz IV
       ablösen. Der Regelsatz steigt um 50 Euro – zu wenig, sagen Sozialverbände.