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       # taz.de -- Streit um EU-Taxonomie: Europäische Zerreißprobe
       
       > Deutschland lehnt den EU-Vorschlag zur Taxonomie endgültig ab. Es drohen
       > Greenwashing im Finanzsektor – und aussichtsreiche Klagen.
       
   IMG Bild: Gegen Greenwashing: Protest gegen die EU-Taxonomie am 19. Januar in Straßburg
       
       Berlin taz | In einem Punkt sind sich Brüssel und Berlin einig: Wichtige
       Dokumente liefert man am besten erst kurz vor Ablauf der Frist ab. Am 31.
       Dezember 2021 kurz vor Mitternacht übersandte die EU-Kommission ihren
       Entwurf für die Details der „grünen Taxonomie“ an die Mitgliedstaaten, der
       zu einem Aufschrei in Europa führte. Und nun schickte die
       [1][Bundesregierung ihre Stellungnahme] dazu auch erst am späten
       Freitagabend ins EU-Hauptquartier, ganz knapp, bevor am 22. Januar die
       Frist ablief.
       
       Sie hätten die „Ablehnung zur Einbeziehung von Atomenergie noch einmal
       deutlich zum Ausdruck gebracht“, [2][teilten die Ressortchefs für Umwelt
       und Klima, Steffi Lemke und Robert Habeck (beide Grüne), am Samstag mit].
       Beim Gas forderten sie allerdings laxere Regeln. Wenn die Kommission nichts
       ändere, solle Deutschland nicht zustimmen – was aber die Verabschiedung
       nicht verhindern wird.
       
       Damit steuert die EU auf einen schweren Konflikt rund um ihren Green Deal
       zum Klimaschutz zu. Denn was zum großen Wurf der EU bei der Ökologisierung
       des Finanzsystems werden sollte, hat sich in einen Konflikt um Recht,
       Gesetz und Vertrauen in Europa verwandelt. Das Tauziehen um die sogenannte
       „grüne Taxonomie“ ist zur Zerreißprobe für die europäische Energie- und
       Finanzpolitik geworden – und zu einem Konflikt über die Demokratie in der
       Gemeinschaft.
       
       Wenn die EU-Kommission in der kommenden Woche ihre Bestimmungen zur
       Taxonomie veröffentlicht, wird die Einbeziehung von Atom und Gas dafür
       sorgen, dass Mitgliedsländer klagen, Umweltgruppen protestieren und
       Investoren verwirrt werden. Dabei wollte sie eigentlich den weltweit ersten
       Bewertungsmaßstab für saubere Investitionen schaffen – und „Billionen in
       den Klimaschutz umleiten“.
       
       ## Der „delegierte Rechtsakt“ der EU-Kommission
       
       Anlass für den Streit sind die Ausführungsbestimmungen der Taxonomie, die
       die EU-Kommission als „delegierten Rechtsakt“ festlegen will. Darin werden
       Kriterien genannt, unter denen künftige Investitionen in der EU als
       „nachhaltig“ etikettiert werden. Erklärtes Ziel dabei ist, die Finanzflüsse
       für neue Kraftwerke, Industrieanlagen oder Gebäude zu Techniken umzuleiten,
       die wenig oder kein Klimagas CO2 ausstoßen.
       
       Die EU geht davon aus, dass jedes Jahr 180 Milliarden Euro „grün“
       investiert werden müssen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Bislang
       sind es [3][nach Zahlen des Thinktanks „Carbon Disclosure Project“ erst 124
       Milliarden.] Die „Taxonomie“ ist ein zentraler Baustein des Green Deals,
       mit dem die EU ihr Ziel erreichen will, bis 2030 minus 55 Prozent
       CO2-Emissionen gegenüber 1990 zu erreichen – [4][derzeit steht die Union
       bei etwa minus 24 Prozent.]
       
       In der Version der Taxonomie vom 31. Dezember 2021 hatte die Kommission
       unter anderem vorgeschlagen, auch Geld für Atomkraft und Gaskraftwerke als
       Hilfe zum Umstieg auf ein CO2-freies System zu betrachten. Das ist an
       Kriterien gebunden: Für die Atomenergie etwa müsste bis 2050 ein Endlager
       nachgewiesen und die Technik müsse unfallsicher werden.
       
       ## „Schlag ins Gesicht der Umweltbewegung“
       
       Neue Gaskraftwerke sollen zudem dafür ihren CO2-Ausstoß ab 2026 so
       drosseln, dass ab 2036 kein CO2 mehr anfällt – also spätestens dann die
       Kraftwerke auf „grüne“ Gase oder Wasserstoff umsteigen.
       
       Der Vorschlag der Kommission stieß auf Kritik: [5][Umweltorganisationen
       sprachen von einem „Schlag ins Gesicht der Klimabewegung“], 30
       [6][Abgeordnete des Europäischen Parlaments forderten eine öffentliche
       Debatte der Taxonomie]. Die Investorengruppe IIGCC, die mehr als 50
       Billionen Euro Kapital grün einsetzen will, forderte die [7][EU auf, die
       Bevorzugung von Gas aus der Taxonomie zu entfernen].
       
       Auf der anderen Seite beschwerte sich die [8][Atomindustrie, auch die neuen
       Regeln reichten nicht für nötige Investitionen – zu restriktiv seien immer
       noch die Vorgaben.] Doch die Konsequenzen reichen viel weiter: „Die gesamte
       Idee der grünen Taxonomie wird dadurch infrage gestellt“, sagt Magdalena
       Senn, Expertin der „Bürgerbewegung Finanzwende“.
       
       „Sie sollte einheitliche und klare Regeln bringen, was ein grünes
       Investment ist, und Greenwashing verhindern. Jetzt geht das Wirrwarr
       weiter, und Greenwashing wird weiter möglich sein.“
       
       ## „Aktuelles Signal fatal“
       
       Ähnlich urteilt Christian Klein, Professor für nachhaltige Finanzen an der
       Universität Kassel. Er ist Mitglied in der deutschen Wissenschaftsplattform
       Sustainable Finance und findet die Taxonomie immer noch „ein exzellentes
       Modell, das uns hilft, die Pariser Klimaziele zu erreichen“. Aber das
       „aktuelle Signal“ sei „fatal“, weil „bei den Anlegern der falsche Eindruck
       entsteht, das sei alles Quatsch“.
       
       Klein sieht einen anderen Hintergrund: „Die Taxonomie ist ja freiwillig und
       wurde erst einmal für eine Nische von vielleicht 10 Prozent der Anlagen
       entwickelt.“ Umkämpft sei sie jetzt, weil sie immer wichtiger werde: „Die
       EU könnte zum Beispiel irgendwann festlegen, dass sich die umfangreichen
       Anlagen zur Altersvorsorge an der Taxonomie ausrichten müssen.“ Dann würde
       dieser Hebel für die Finanzmärkte wirklich relevant. Tatsächlich war das
       genau der Plan der Taxonomie-Fans: ein Instrument zu schaffen, das klein
       anfängt und irgendwann die „Billionen“ tatsächlich umschichtet.
       
       EU-Länder, in denen die Grünen mit in der Regierung sitzen, haben noch
       einen ganz anderen Verdacht: Wenn Atom und Gas in der Taxonomie erst einmal
       als „nachhaltig“ anerkannt sind, könnte das auch auf andere EU-Finanzfragen
       übergreifen. „Frankreich geht es nicht um die privaten Investitionen, die
       grün sind“, sagt Claude Turmes, Energieminister von Luxemburg, der taz. „Da
       geht es darum, dass die EU akzeptiert, dass bei staatlichen Beihilfen auch
       Atom als CO2-freie Technik gilt, damit Frankreich seinen Atompark weiter
       mit Steuergeldern finanzieren kann.“
       
       Auch andere EU-Töpfe liefen Gefahr, als Finanzierungsinstrument für Atom-
       und Gasprojekte genutzt zu werden: So der 724 Milliarden Euro schwere
       RRF-Fonds für den Corona-Wiederaufbau oder die Programme der Europäischen
       Investitionsbank EIB. Bisher verlangt die Taxonomie für das grüne Etikett,
       dass eine Investition „keinen signifikaten Schaden an der Umwelt
       anrichtet“. Wenn die Atomkraft davon freigesprochen werde – wie es ein
       [9][umstrittenes Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes der EU tut] –,
       „dann ist das die goldene Brücke, um auch die Staatshilfen für Atom durch
       die EU-Länder in Zukunft unter grüne Investments fallen zu lassen“, warnt
       Claude Turmes.
       
       ## Österreich und Luxemburg klagen
       
       Für Länder wie [10][Österreich und Luxemburg, die Klagen gegen die
       Taxonomie planen], steht sogar noch mehr auf dem Spiel: die demokratischen
       Prozesse in der EU. Denn die Grundregeln der Taxonomie sind in einem Gesetz
       vereinbart worden. Der „delegierte Rechtsakt“ ist dafür nur die
       Ausführungsbestimmung, wo Kleinigkeiten geregelt werden.
       
       Weil sich manche Länder gesträubt haben, sind Atom und Gas nicht im
       Taxonomie-Gesetz gelistet. Jetzt könne diese Regel nicht einfach durch die
       Hintertür des „Rechtakts“ wieder eingeführt werden, empört sich Turmes.
       Seine österreichische Amtskollegin Leonore Gewessler sieht es ähnlich,
       [11][auch ein juristisches Gutachten der Deutschen Umwelthilfe stützt diese
       Interpretation.]
       
       Claude Turmes ist deshalb zuversichtlich, dass der Vorstoß der
       EU-Kommission vor Gericht scheitern wird: „Es ist unmöglich, die
       europäische Demokratie mit so einem Trick auszuhebeln.“ Sein Vorschlag für
       eine Lösung: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen müsse für die
       Themen Atom und Gas einen Zusatz zum Taxonomie-Gesetz formulieren, der dann
       zwischen Parlament, Rat und Kommission im normalen Verfahren debattiert
       werde.
       
       Ein Gutes habe die Debatte, sagt Finanzexperte Christian Klein: „Bisher hat
       dieses zentrale Thema in der Politik und den Medien kaum jemanden
       interessiert. Jetzt wissen alle, wie wichtig die Taxonomie ist, wenn ab
       September die Bankberater ihre Kunden darauf hinweisen müssen.“
       
       24 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bundesregierung-gegen-EU-Taxonomie/!5829932
   DIR [2] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2022/01/20220122-habeck-und-lemke-bekraeftigen-kritik-an-atomregeln-in-taxonomie.html
   DIR [3] https://www.cdp.net/en/articles/climate/european-companies-invest-124-billion-in-low-carbon
   DIR [4] https://www.eea.europa.eu/themes/climate/eu-greenhouse-gas-inventory
   DIR [5] /Umstrittene-Plaene-der-EU-zur-Taxonomie/!5825704
   DIR [6] https://www.spiegel.de/wirtschaft/umstrittene-eu-taxonomie-widerstand-im-eu-parlament-gegen-gruene-einstufung-von-atomkraft-waechst-a-59e4e7b0-b2be-4d18-be08-cbbe06060407
   DIR [7] https://www.iigcc.org/news/iigcc-publishes-open-letter-calling-for-gas-to-be-excluded-from-the-eu-taxonomy/
   DIR [8] https://www.foratom.org/press-release/foratom-proposes-improvements-to-taxonomy-complementary-delegated-act/
   DIR [9] /Gutachten-zu-nachhaltigen-Geldanlagen/!5758426
   DIR [10] /Debatte-ueber-gruenes-Geld/!5797655
   DIR [11] https://www.duh.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/neues-rechtsgutachten-zu-eu-taxonomie-aufnahme-von-atom-und-gas-waere-rechtswidrig-deutsche-umwelth/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pötter
       
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