URI: 
       # taz.de -- Streit um Gedicht an Hochschulfassade: Von Blumen und schönen Frauen
       
       > An der Fassade einer Berliner Hochschule steht ein Gedicht von Eugen
       > Gomringer. Studierende finden es sexistisch, nun muss es umziehen.
       
   IMG Bild: Für'n Eimer? Der Vergleich von Blumen mit Frauen
       
       Berlin taz | Der Mann, der die Frauen bewunderte, muss umziehen. Saß er
       bisher unangefochten riesig auf der Fassade der Alice Salomon Hochschule in
       Berlin-Hellersdorf, so muss er 2018, wenn die Fassade saniert wird, mitsamt
       seinem Gedicht auf eine kleinere Plakette am Fuß der Wand weichen. Groß
       wird ab dann alle fünf Jahre ein neues Gedicht erscheinen. Barbara Köhler
       soll den Anfang machen, mit welchem Werk, steht noch nicht fest.
       
       Worum geht’s? Die Sonne scheint, der Dichter sitzt in der Mitte der breiten
       Allee, die Blumen leuchten vor den Verkaufsständen, zwischen denen Frauen
       flanieren. Er genießt. Er bewundert die Schönheit, die sich vor ihm
       ausbreitet. Der Dichter Eugen Gomringer hat diese Szenerie 1951 in
       „Avenidas“ zum Paradewerk der konkreten Poesie gemacht, das mit nur sechs
       Worten in immer neuen Kombinationen in wiegenden Rhythmen diese ganze
       städtische Pastorale heraufzubeschwören vermag.
       
       In schrillem Kontrast zur Beschaulichkeit des Gedichts steht die Debatte,
       die es hervorgerufen hat. Seit 2011 ziert es die Südfassade der Alice
       Salomon Hochschule für Soziale Arbeit in Berlin. Deren Studierenden
       allerdings stieß sein Gehalt schon von Beginn an auf. 2016 dann beantragte
       der Asta, das Gedicht zu entfernen. Warum?
       
       „Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale
       Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die
       männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem
       unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt
       sind,“ heißt es in der Erklärung des Asta. Man stelle nicht Gomringers
       Gesamtwerk infrage, jedoch bezweifle man, dass sich dieses Gedicht als
       Aushängeschild der Hochschule eigne. Man wolle eine Umgestaltung der
       Fassade.
       
       ## Von Zensur ist die Rede
       
       Paff. #MeToo an der Salomon-Hochschule. Der hochdekorierte Gomringer als
       Inspirator für Frauenbelästiger. Was zunächst noch als „Provinzposse“,
       angestiftet von „verrückten Studenten“ aus dem gendermäßig überhitzten
       Berlin, abgehandelt wird, gewinnt schnell an Ernst. Die Schwierigkeit
       besteht unter anderem darin, dass Gomringer der Hochschule das Gedicht
       geschenkt hat – als Dank dafür, dass sie ihm 2011 zusammen mit dem Haus der
       Poesie einen Poetikpreis verlieh.
       
       Den vergeben beide Institutionen zusammen regelmäßig, und aus dem Kreis der
       Preisträger*innen sollen nun auch die zukünftigen Fassadenkunstwerke
       ausgewählt werden. Das Haus der Poesie reagiert schon damals entsetzt. Der
       Spuk solle sofort ein Ende nehmen, sonst verlasse man die gemeinsame Jury.
       Am Dienstag nun machte das Institut Ernst und beendete die Zusammenarbeit
       mit der Hochschule. Auch die Jury, maximal düpiert, trat geschlossen
       zurück.
       
       Schon 2017 spricht das Haus der Poesie von der „Vernichtung eines
       Kunstwerks“. Die FAZ sieht den Dichter Gomringer diskriminiert und
       menetekelt, dass die Hochschule ihm und anderen ihre Poetikpreise wieder
       aberkennen wolle. Der Ehrenpräsident des Pen-Zentrums Deutschland,
       Christoph Hein, gerät in helle Rage: „Wirklich skandalös an diesem
       barbarischen Schwachsinn eines Asta ist: Die Alice Salomon Hochschule
       Berlin ist eine Fachhochschule mit den Schwerpunkten Erziehung und Bildung,
       d. h. diese Kulturstürmer werden einst den Nachwuchs ausbilden“, so zitiert
       ihn das Pen-Zentrum in seiner offiziellen Stellungnahme zum Thema. Von
       Zensur ist allenthalben die Rede.
       
       ## Er Subjekt, sie Objekt
       
       Und dann die Interpretationsdebatte erst: Die FAZ zieht sich in einem
       unlesbaren Text, der eifrig Silben zählt, ganz aufs Formale zurück. Nora
       Gomringer, selbst Schriftstellerin und Tochter des Dichters, nennt die
       Interpretation der Studierenden schlicht „falsch“. Der Bewunderer sei den
       Objekten gar nicht gegenübergesetzt, schließlich stehe da ein „und“.
       
       Die renommierte Romanistin Barbara Vinken sieht die Frauen allegorisch: Die
       Schönheit selbst werde hier besungen. Wenn man die weibliche Muse aus der
       Kunstgeschichte eliminieren wolle, wären die Museen schlagartig leer, sagen
       viele.
       
       „Kann Bewunderung herabsetzen?“, fragt wieder die FAZ ungläubig und muss
       sich von Feministinnen belehren lassen, dass man genau diese Bewunderung,
       die nur dem Äußeren und nichts anderem gilt, tatsächlich als herabsetzend
       erlebt werden kann und „wohlwollenden Sexismus“ genannt wird.
       
       Doch insgesamt halten sich die Feministinnen auffällig zurück. Klar erkennt
       man die klassische Geschlechterposition der Kunst-, Wissenschafts-, ja,
       Gesellschaftsgeschichte wieder: er Subjekt, sie Objekt.
       
       ## Die Blume der Frau
       
       Aber die Freiheit der Kunst wiegt den allermeisten schwerer und lässt sie
       schweigen. Außerdem sei das Gedicht sehr schön, finden viele ganz
       subjektiv. Ob man nicht noch ein paar Männer und Frauen zufügen könne, um
       es zu entschärfen? Gedichtergänzungswettbewerbe werden gestartet. Einige
       enden mit dem Nachsatz: „und verrückte Studenten“. Umso stärker wirken die
       Studierenden nun als befallen vom Genderwahn.
       
       Man kann doch nicht alles wegzensieren, was einem gegen die
       Geschlechtervorstellung geht! Eugen Gomringer selbst schließlich ist nahezu
       verzweifelt: Er wolle doch keine Frauen diskriminieren! Das sei niemals
       seine Absicht! Mit Gender Studies hat er sich erkennbar noch nicht
       auseinandergesetzt.
       
       Doch Männer, Frauen und Blumen bestehen nun einmal nicht im luftleeren und
       unhistorischen Raum. Zum einen hat Gomringer es mit dem Gedicht tatsächlich
       fertig gebracht, die letzten Jahrhunderte der Geschlechterbeziehungen in
       der Kunst in sechs Worten auf den Punkt zu bringen. Er ist handelndes
       Subjekt, sie ist schönes Objekt. Allein dafür muss man das Gedicht weiter
       in den Schulbüchern erhalten.
       
       Zum anderen haben Männer, die Frauen wie Blumen genießen, einen
       Assoziationshof weit jenseits der bloßen „Schönheit“, wie Vinken meint. Die
       Blume der Frau liegt traditionell zwischen ihren Beinen, von „Defloration“
       ist nicht von ungefähr die Rede, das „Heideröslein“, das der Knabe stehen
       sieht und gegen dessen Willen bricht. Alles auch da.
       
       ## Merkwürdiger Autoritarismus
       
       Und dass eine Hochschule, deren Ziel es ist, junge Frauen zu handelnden
       Subjekten auszubilden, ihre Fassade nicht gerade mit diesen
       Assoziationsräumen verzieren will, ist so ganz unverständlich nicht. Zensur
       hieße, der Staat verbietet das Gedicht. Hier und heute aber kann jede und
       jeder hergehen und das Gedicht an seine eigene Fassade malen – so Gomringer
       es erlaubt.
       
       Insofern eignet beiden Seiten der Debatte ein merkwürdiger Autoritarismus:
       Die Studis wollen das Gedicht nicht mehr sehen. Die Apologet*innen der
       Kunstfreiheit finden deren Interpretation einfach „falsch“ und wollen, dass
       der Hochschulrektor die Unbotmäßigen in die Schranken weist, als lebten wir
       zu Kaisers Zeiten und als hätte ihre Generation nicht mal für mehr
       Demokratie an Hochschulen demonstriert.
       
       Rektor Uwe Bettig hat das Beste aus seiner Situation gemacht. Er hat seine
       Studierenden ernst genommen, ist aber nicht vor ihnen eingeknickt. Und auch
       nicht vor der fassadenhohen Wand des Kulturbetriebs, die sich vor ihm
       aufbaute. Er hat einen Wettbewerb ausgeschrieben, die Hochschule hat online
       abgestimmt.
       
       ## Doch noch mal mit anderen Augen
       
       Ein Gedicht von May Ayim und ein Zitat von Alice Salomon kamen in die
       engere Auswahl. Er selbst hat die Wechsellösung vorgeschlagen, die der
       Akademische Senat dann schließlich gestern angenommen hat. Er hat Eugen
       Gomringer einbezogen, der – wenn auch unversöhnt und unter Protest – zur
       Enthüllung der Plakette 2018 anreisen soll.
       
       Was bleibt? Eine Debatte, in der die feministischen Argumente bisher wenig
       Gehör fanden. Verrückte Studierx mit Genderwahn haben erfolgreich ein
       Kunstwerk wegzensiert. In Zeiten allerdings, in denen mehr Menschen bereit
       sind, Frauen zuzuhören, wenn sie davon berichten, wie das angeblich „ganz
       normale“ und „nett gemeinte“ Verhalten von Männern sie einschränkt,
       bedrängt und verletzt, könnte ja der eine oder die andere das Gedicht dann
       doch noch mal mit anderen Augen lesen.
       
       23 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heide Oestreich
       
       ## TAGS
       
   DIR Sexismus
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Alice-Salomon-Hochschule
   DIR Lesestück Meinung und Analyse
   DIR Sexismus
   DIR Heino
   DIR Sexismus
   DIR Wochenkommentar
   DIR Alice-Salomon-Hochschule
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Eier
   DIR Menstruation
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Umstrittenes Gedicht „avenidas“: In Rehau nicht sexistisch
       
       Das Gomringer-Gedicht, das die Alice-Salomon-Hochschule nicht mehr haben
       will, hat im fränkischen Rehau eine neue Heimat gefunden.
       
   DIR Kulturwissenschaftler über Heimatlieder: „Das Problem sind die Texte“
       
       Der Sänger Heino schenkte der Heimatministerin von NRW eine Platte mit
       Liedern, die auch die SS einst sang. Ein Skandal?
       
   DIR Debatte um Sexismus bei „Hart aber fair“: Wenn die Quotenfrauen sprechen
       
       Jede Gesellschaft braucht ihre Alibi-Repräsentant*innen, für die Probleme
       nicht so schlimm sind. Talk-Shows wie „Hart aber fair“ spiegeln das wider.
       
   DIR Berliner Wochenkommentar II: Es geht um Macht, nicht um Kunst
       
       Die Entfernung eines Gedichts an der Fassade der Alice Salomon-Hochschule
       in Berlin sorgt für Zensur-Diskussionen
       
   DIR Kolumne Liebeserklärung: Endlich wieder radikale Studis
       
       Gedichte-Übermalen muss man nicht gut finden. Aber die Studierenden machen
       genau das, was man immer von ihnen verlangt: das Maul auf.
       
   DIR 20 Jahre Lewinsky-Affäre: Die Normen einer anderen Zeit
       
       1998 wurde Monica Lewinsky wegen ihrer Beziehung zu Bill Clinton öffentlich
       diffamiert. Der Ex-Präsident ist dagegen noch immer beliebt.
       
   DIR Kolumne Eier: Sorry für's Grapschen, Zimtschnecke
       
       Entschuldigt wurde sich viel in letzter Zeit, vor allem von Männern. Aber
       nicht jede Entschuldigung ist eine gute. Fünf Tipps, wie's doch klappt.
       
   DIR Autorin Heike Kleen über Menstruation: „Tampons wurden versteckt“
       
       Heike Kleen hat ein Buch über Menstruation geschrieben. Ein Gespräch über
       Mythen, Halbwissen und die Frage, wieso das Thema heute wieder tabu ist.