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       # taz.de -- Streit um Nettelbeckweg in Gütersloh: Verstolperte Dekolonialisierung
       
       > In Gütersloh sollte der Nettelbeckweg umbenannt werden, der Mann war
       > Sklavenhändler. Die Debatte wurde sorgfältig geführt, dann knickte die
       > CDU ein.
       
   IMG Bild: Gibt es in vielen deutschen Städten: Nettelbeckstraßen und – plätze. Diese liegt in Duisburg
       
       Gibt es nichts Wichtigeres, lautet oft die Frage, wenn eine Straße
       umbenannt werden soll, [1][vor allem bei Namen, die einen kolonialen Bezug
       haben]. Wer die Frage nur rhetorisch stellt, übersieht, dass Straßennamen,
       so banal sie sein mögen, Identität stiften. Die eigene Adresse stellt den
       Kontakt zu etwas so Abstraktem wie Erinnerungskultur her und damit zu der
       Gesellschaft, in der man lebt. Feiertage, Museen und Denkmäler lassen sich
       ignorieren. Der Name der Straße, in der man wohnt, aber steht im Ausweis,
       das schafft Verbindung. Dafür spricht auch die Gegenprobe: Wenn es so
       Wichtigeres gibt als Straßennamen, wieso ist der Widerstand gegen
       Umbenennungen aus dekolonialen Gründen dann zumeist so groß?
       
       In Gütersloh wurde seit Herbst über die Umbenennung des dortigen
       Nettelbeckwegs diskutiert. Joachim Nettelbeck (1738–1824) firmiert in
       älteren Lexika zumeist als Seefahrer, Patriot und „Verteidiger von
       Kolberg“, den die Nazis durch Veit Harlans Durchhaltefilm „Kolberg“
       (1943–1945) zum Vorbild für ihren sinnlosen Kampf am Ende des verlorenen
       Krieges machen wollten.
       
       Neuere Forschung hat erhellt, dass Nettelbeck für den Erwerb von Kolonien
       lobbyierte und als Offizier auf niederländischen Schiffen aktiv vom
       transatlantischen Versklavungshandel profitierte. Dies in einer Zeit, in
       der diese Form des Menschhandels hierzulande bis in Schulbücher hinein
       kritisch gesehen wurde. Was in Vergessenheit geraten konnte, weil das Bild
       Nettelbecks, angefangen von ihm selbst, über die Jahrhunderte umgebaut
       wurde – der Kolonialenthusiast und Sklavenhändler verschwand hinter dem
       Patrioten.
       
       Eine wesentliche Rolle spielte dabei Paul Heyses Drama „Colberg“ von 1868.
       Es diente als Vorlage für Harlans Propagandafilm und wurde in Gütersloh
       1964 als Begründung für die Ehrung Nettelbecks herangezogen, als eine
       kleine Stichstraße nach Nettelbeck benannt wurde – die antisemitischen
       Figurenentwürfe in „Colberg“ störten nicht.
       
       ## Durchaus vorbildhaft organisiert
       
       Letzteres wurde vom Nettelbeck-Experten Urs Lindner auf einer
       Anwohnendenversammlung in Gütersloh Anfang März dargelegt. Das Forum, auf
       dem auch den Sichtweisen von anwesenden Personen aus 13 Haushalten aus dem
       Nettelbeckweg Raum geboten wurde, ist ein guter Beleg dafür, dass die Stadt
       den Prozess durchaus vorbildhaft organisierte. Besonders im Vergleich zu
       Erfurt, [2][wo von 2020 bis 2023 über die Umbenennung des Nettelbeckufers
       gestritten wurde]. Dort kam ein beschlossener runder Tisch nie zustande,
       und ein Lokalhistoriker trug eher zur Desinformation bei als zur
       Aufklärung. Die SPD-Fraktion des Oberbürgermeisters Andreas Bausewein
       flipperte sachfern und politisch orientierungslos durch die Diskussion, um
       am Ende mit AfD und CDU für den CDU-Vorschlag auf Beibehaltung zu stimmen.
       Zuvor waren in Dortmund (Nettelbeckstraße, 2020) und Berlin
       (Nettelbeckplatz, 2021) Umbenennungsbeschlüsse getroffen worden.
       
       In Gütersloh hatte die lokale Politik bereits 2021 eine Richtlinie
       verabschiedet, die vom eigens eingesetzten Expertise-Gremium AG
       Straßennamen erarbeitet worden war. Darin wird der Umgang mit
       problematischen Straßennamen differenziert beschrieben. Die Umbenennung als
       stärkstes Mittel ist demnach nur in Ausnahmefällen vorgesehen, Beförderung
       von und Beteiligung an kolonialer Unterdrückung sind einer.
       
       ## Das Engagement der Schulklasse wurde gelobt
       
       Der Impuls für die Diskussion um den Nettelbeckweg kam in Gütersloh von
       einer Schulklasse des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums. Diese hatte im
       Herbst über einen sogenannten Bürgerantrag den Vorschlag zur Umbenennung
       eingereicht. Als Person, die an Stelle Nettelbecks künftig geehrt werden
       sollte, wurde Johanna Gertze vorgeschlagen, die als Urieta Kazahendike 1837
       im heutigen Namibia geboren wurde und 1936 dort verstarb. Gertze lebte
       Mitte des 19. Jahrhunderts für einige Zeit in Gütersloh im Haushalt eines
       Missionars, wo sie auf den deutschen Namen getauft wurde; dem Missionar
       half sie als eine Art Martina Luther maßgeblich bei der Übersetzung der
       Bibel in die Sprache der Herero.
       
       Die Initiative der Schulklasse resultierte aus einem Rechercheprojekt zu
       drei belasteten Straßennamen, mit dem die Jugendlichen bei einem
       Geschichtswettbewerb der Bundeszentrale für politische Bildung einen Preis
       gewonnen hatten. Nur beim Nettelbeckweg lag der Fall dann so klar, dass der
       Antrag eingereicht wurde, weil sich für die Beibehaltung des Namens aus
       heutiger Sicht kein Grund mehr finden lässt.
       
       Inhaltliche Argumente für eine andauernde Ehrung eines Sklavenhändlers
       waren dann auch weder aus der Politik noch auf der Anwohnendenversammlung
       zu vernehmen. Zugleich wurde das Engagement der Schulklasse quer durch fast
       alle Fraktionen gelobt, auch von den konservativen Bürgern für Gütersloh
       (BfGT). SPD und Grüne hatten sich früh für eine Umbenennung ausgesprochen,
       die CDU forderte im Februar, nach einer schriftlichen Befragung der
       Anwohnenden, noch, die erwähnte Versammlung im März zu veranstalten.
       
       ## Juristisch nicht so klar
       
       Eigentlich hätte der Kulturausschuss Anfang April dann eine Entscheidung
       treffen sollen. Die Sitzung endete allerdings in großer Ratlosigkeit. Es
       wurde nämlich sowohl ein kurzfristig eingereichter Änderungsantrag der
       CDU-Fraktion beschlossen, der für Beibehaltung des Namens und die
       Anbringung eines QR-Codes mit Information über Nettelbecks Lebensleistung
       votierte, als auch der ursprüngliche Umbenennungsantrag. Das war möglich,
       weil die konservative Mehrheit mit CDU und BfGT für die Beibehaltung
       votierte, sich bei der Abstimmung über den Umbenennungsantrag dann aber
       enthielt – wohl aus Sorge, die anwesende Schulklasse auf den Rängen zu
       enttäuschen, wie von mehreren Seiten zu hören war.
       
       Also wurde die Entscheidung in die nächste Stadtratssitzung Anfang Mai
       verwiesen. Dort stand dann aber zum deutlich bekundeten Ärger von SPD und
       Grünen nur noch eine formale Beanstandung zur Abstimmung, die auf einen
       Einspruch durch den Ersten Beigeordneten Henning Matthes (CDU) als
       Vertreter des Bürgermeisters zurückging. Danach hätte über den
       Umbenennungsantrag im Kulturausschuss gar nicht mehr abgestimmt werden
       dürfen, weil der Änderungsantrag bereits angenommen war.
       
       Diese Lesart ist juristisch nicht so klar, wie sie tut. Denn laut
       Geschäftsordnung des Gütersloher Stadtrats sind Änderungsanträge „Anträge,
       die vom ursprünglichen Sachantrag ausgehen und ihn lediglich modifizieren“.
       Und davon kann bei einem Antrag, der das Gegenteil des Ursprungsantrags
       fordert (Beibehaltung statt Umbenennung), ja schlecht die Rede sein.
       
       ## Die Hasenfüßigkeit der Politik
       
       So geht die Debatte um den Gütersloher Nettelbeckweg fürs Erste doch
       auffällig verdruckst zu Ende. Schaut man aus fernerer Warte auf das
       verstolperte Finale, in dem die Auseinandersetzung über ein Riesenthema wie
       Kolonialismus durch Winkelzüge auf einen Formfehler reduziert werden
       konnte, wird eine Hasenfüßigkeit vor allem der konservativen Politik
       erkennbar – die Unfähigkeit, politische Entscheidungen zu treffen. Das mag
       damit zu tun haben, dass man sich trotz guter Gründe nicht traut, gegen
       denjenigen Teil der Anwohnenden zu entscheiden, die der Umbenennung
       ablehnend gegenüberstehen; im Gütersloher Fall eine Zahl im unteren
       zweistelligen Bereich.
       
       Letztlich verlängert die unklare Entscheidungsfindung das Gezerre aber
       gerade auch für diese Gruppe, weil die Diskussion über das koloniale Erbe
       dadurch nicht aufhören wird, dass Aufschieben und Zeitschinden die Sache
       nicht besser macht. Man kann sich die Debatten über Dekolonialisierung wie
       einen Wecker vorstellen, der gerade ziemlich laut klingelt. Sofort
       aufzustehen, wirkt im ersten Moment hart. Aber immer wieder auf Schlummern
       zu drücken, rädert am Ende viel mehr.
       
       21 May 2024
       
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