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       # taz.de -- Streit um Thomas Bernhards Nachlass: Wer schützt Dichter vor den Erben?
       
       > Ein Archiv wird geschlossen. Forscher bangen um ihre Quellen. Andere
       > kritisieren den Umgang mit Fördergeldern.
       
   IMG Bild: Auch auf der Bühne steht Streit unter Erben gerne im Zentrum des Stücks.
       
       Das Urheberrecht ist eine scharfe Waffe. Es eignet sich sogar dazu, gegen
       Kunstwerke anderer vorzugehen. Hätte etwa irgendeine staatliche oder
       weltanschauliche Autorität als das Urheberrecht Frank Castorfs Münchner
       „Baal“-Inszenierung im Frühjahr dieses Jahres von der Bühne gezwungen, die
       Entrüstung wäre groß gewesen. Die öffentliche Reaktion auf das Verbot der
       Brecht-Erben, das letztlich nichts anderes zur Folge hatte, blieb dagegen
       halbherzig, bisweilen resignativ.
       
       Dass Theater eigene Schöpfungen hervorbringt und nicht nur Dichterworte
       virtuos reproduziert, ist eine junge, für die Zeiträume, in denen sich
       Recht entwickelt, vielleicht zu junge Einsicht. Aber sie lässt in Zukunft
       freundlichere Urteile erwarten. Gerät die Freiheit der Wissenschaft in
       Konkurrenz mit ererbten Ansprüchen aus dem Urheberrecht, verspricht die
       Zeit dagegen keine Abhilfe. Ein solcher Konflikt wird in der causa prima
       des österreichischen Literatur- und Wissenschaftsbetriebs, dem Umgang mit
       Werk und Nachlass von Thomas Bernhard, derzeit vehement ausgetragen.
       
       Bis Jahresbeginn arbeitete das 2001 gegründete Thomas-Bernhard-Archiv in
       einer Villa inmitten einer Parkanlage in der oberösterreichischen Stadt
       Gmunden. Sein Träger war die Thomas-Bernhard-Privatstiftung in Kooperation
       mit dem Bundesland Oberösterreich und der Universität Salzburg, der
       Germanist Martin Huber ihr langjähriger Leiter. Huber ist auch Herausgeber
       der bei Suhrkamp erscheinenden, 22 Bände umfassenden Gesamtausgabe. Die
       Edition gehört zu den zahlreichen Publikationen, die den Ruf des Archivs in
       der Fachwelt begründen. Für den Salzburger Germanistik-Ordinarius Hans
       Höller wurde die Villa „zu einem internationalen Zentrum lebendiger
       wissenschaftlicher Archivkultur“. Man habe dort exzellent über Bernhard
       forschen können.
       
       Doch dann, schreibt Höller anlässlich von Bernhards 25. Todestag im Wiener
       Standard vom 12. Februar 2014, sei „der Archivleiter vom Halbbruder Thomas
       Bernhards und Nachlasserben Dr. Peter Fabjan plötzlich […]mit einem
       Dienstfreistellungsantrag konfrontiert worden.“ Es gab offenbar
       unterschiedliche Ansichten über die Rechenschaftspflichten bei der
       Verwendung öffentlicher Gelder. Huber hatte die Subventionsgeber vom Plan
       des Erben und des Verlags informiert, mit der Österreichischen Akademie der
       Wissenschaften (ÖAW) einen Vertrag über die Digitalisierung des Archivs zu
       schließen.
       
       ## Archiv residiert in der Villa im Park
       
       Seit Jahresbeginn ist der Standort Gmunden geschlossen und Huber, wie
       Höller schreibt, „vor die Tür gesetzt“. Die Archivunterlagen befinden sich
       nach Auskunft von Suhrkamp wieder „dort, wo die Dokumente schon einmal über
       ein Jahrzehnt lagerten“. Vermutlich in einer Wiener Privatwohnung. Der
       Grazer Germanist Klaus Kastberger bezweifelt, dass die Dokumente weiterhin
       nach transparenten, jedermann nachvollziehbaren Regeln für die Forschung
       zugänglich bleiben.
       
       Kastberger übt darüber hinaus grundsätzliche Kritik an der 1998 gegründete
       Privatstiftung. Sie habe nach außen den mutmaßlichen Bruch von Bernhards
       Testament legitimiert hinsichtlich des darin ausgesprochen Aufführungs- und
       Publikationsverbots für Österreich. „Nach innen ergab sich über die
       Stiftung die Möglichkeit zur Rekrutierung staatlicher Fördergelder.“ Obwohl
       in ihr fast ausschließlich öffentliches Geld stecke, habe man seitens der
       Stiftung „nach außen hin stets so getan, als handle es sich hier um eine
       autonome Sache, die an keinerlei Vorgaben oder Auflagen gebunden ist“.
       
       Tomas Friedmann vom Salzburger Literaturhaus kritisiert die Vergabe von
       Aufführungsrechten zu Thomas Bernhard als intransparent und ebenso die
       Stiftung als Ganzes: Sie habe die Aufgabe, die Verbreitung von Bernhards
       Werk zu fördern und nicht zu verhindern. Das Institut für Corpuslinguistik
       und Texttechnologie (ICLTT) der Österreichischen Akademie der
       Wissenschaften (ÖAW), derzeit provisorisch untergebracht in einem Wiener
       Innenstadthaus, betreibt mittlerweile die Digitalisierung des gesamten
       Archivbestands nach einer „Public-private-Partnership“, die mit Suhrkamp im
       Juni 2013 geschlossen wurde.
       
       Die erste digitale Bestandssicherung ist auf einen Zeitraum von drei Jahren
       geplant. Darüber hinaus ist schon jetzt eine digitale Edition von
       „Wittgensteins Neffe“ in Arbeit. Über die Eckdaten der Vereinbarung ist
       wenig zu erfahren, das gilt auch für den Anteil öffentlicher Gelder an
       einem Gesamtbudget, das laut Frankfurter Allgemeine Zeitung „weniger als
       fünf Millionen“ Euro zu schätzen ist. Das wäre durchaus von öffentlichem
       Interesse. Es ist anzunehmen, dass der digitale Korpus des ÖAW künftig auch
       Grundlage für E-Book-Publikationen bei Suhrkamp bildet.
       
       ## Heimlicher Paradigmenwechsel
       
       Mit dem bevorstehenden Abschluss der Gesamtausgabe scheint eine
       traditionelle Germanistik, die Bernhards Werk über Jahrzehnte kritisch
       erschlossen und damit auch zu seiner Durchsetzung beigetragen hat, ihre
       Arbeit getan zu haben. Ausgewiesene Bernhard-Experten wie Martin Huber oder
       sein Biograf Manfred Mittermayer sind nach dem derzeitigen Stand an
       Projekten das Archiv betreffend nicht mehr beteiligt. Langjährige
       Bernhard-Forscher fürchten sich von ihren Quellen abgeschnitten. Nicht zu
       vernachlässigen sind wohl auch die persönlichen Belastungen, die aus der
       Aufkündigung langjähriger intensiver Arbeitsbeziehungen erwachsen.
       
       Bernhard liegt nun in der Hand von WissenschaftlerInnen, die zwar die
       „Fackel“ von Karl Kraus digital ediert haben, von denen aber kaum
       einschlägigen Publikationen zu Bernhard bekannt sind. Suhrkamp-Cheflektor
       Raimund Fellinger sieht das wissenschaftliche Niveau dennoch gewahrt, nicht
       zuletzt durch das eigene Zutun: „Setzen Sie vielleicht unter anderen den
       Namen Raimund Fellinger ein, der die Werke Thomas Bernhards mitkonzipiert
       und von Anfang an als Lektor betreut hat?“
       
       Was im wissenschaftlichen Umgang mit Thomas Bernhard tatsächlich geschieht,
       ist ein Paradigmenwechsel durch die Hintertür. Eine
       Old-School-Literaturwissenschaft wird ungeachtet ihrer Verdienste um den
       Autor im Kampf um knappe Forschungsmittel von einer quasi
       naturwissenschaftlichen Texterfassungskunde des digitalen Zeitalters
       verdrängt. Der Skandal besteht darin, dass eine solche Entwicklung nicht
       Resultat des fachwissenschaftlichen Diskurses ist, sondern mehr oder minder
       durch die kontingente Handlungsweise eines Einzelnen hervorgerufen wird.
       
       Es bleibt die Frage, ob Peter Fabjan diese Entwicklung samt ihren
       menschlichen Konsequenzen so gewollt hat. Ein Porträt in der FAZ zeigt ihn
       unter der Last der Verantwortung dieses Erbes. Immer wieder ist darin von
       Missverständnissen, vom Gefühl die Rede, Fachleuten vertraut zu haben und
       darin enttäuscht worden zu sein, auch dort, wo Person und Sache besser zu
       trennen wären. Das Projekt der gerade erschienenen Biografie Thomas
       Bernhards von Manfred Mittermayer etwa gerät in dieser Sicht zum
       Versprechen, das jahrelang nicht erfüllt worden sei. Fabjan fühlt sich auch
       dafür verantwortlich, was über Bernhard geschrieben wird. Hans Höller
       berichtet davon im Standard: „Einige Jahre nach Thomas Bernhards Tod hatte
       Dr. Fabjan meine Bernhard-Monografie, deren Manuskript ich ihm geschickt
       hatte und die druckfertig beim Rowohlt-Verlag lag, kündigen wollen, indem
       er allen Ernstes durch seine Intervention beim Verlag ihr Erscheinen – für
       ihn ein fehlerhaftes Machwerk – zu verhindern trachtete.“
       
       Erste Urheberrechtsregeln bestehen im deutschsprachigen Raum noch keine 200
       Jahre. Wichtigste Kulturleistungen darin wurden ohne ihren Schutz erbracht.
       Es soll KünstlerInnen und ihre Nachkommen schützen, aber auch Verbreitung
       und Erforschung des Werks ermöglichen. Das verläuft nicht immer
       friktionsfrei und wirft die Frage auf nach vermittelnden Instanzen in der
       Abwägung privater und öffentlicher Interessen. Man möge den Erben für 70
       Jahre ihre Revenuen belassen, Zugänge zum Werk für Kunst und Wissenschaft
       aber unabhängig von persönlichen Erwägungen gestalten, dass Bühne, Buch und
       Vortragspodium ihm ohne Denkverbote begegnen können. Nur so bleibt ein Werk
       lebendig.
       
       27 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Mattheiß
       
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