# taz.de -- Streitgespräch vor Hamburger Abstimmung: Ist der Zukunftsentscheid ungerecht?
> Nein, sagt Lou Töllner, Sprecherin des „Hamburger Zukunftsentscheids“.
> Ja, entgegnet Klaus Wicher, Landesvorsitzender des Sozialverbands SoVD.
IMG Bild: Die Hamburger:innen haben die Klima-Wahl: Wie werden sie am Sonntag abstimmen?
Soll sich Hamburg gesetzlich dazu verpflichten, bereits bis zum Jahr 2040
klimaneutral zu werden? Über diese Frage können rund 1,3 Millionen
Wahlberechtigte am 12. Oktober abstimmen. Die Gesetzesvorlage verpflichtet
den Hamburger Senat außerdem dazu, Maßnahmen zum Erreichen dieses Ziels
zwingend sozialverträglich auszugestalten. [1][Doch kurz vor dem
Volksentscheid wächst die Kritik an den Klimaaktivist:innen:] Die Forderung
sei unrealistisch, der vorgeschlagene Weg zur Klimaneutralität Hamburgs
würde arme Menschen noch mehr belasten.
taz: Herr Wicher, Sie warnen vor einem Erfolg des „Hamburger
Zukunftsentscheids“, der die Klimaschutzbemühungen in der Stadt verstärken
soll. Warum?
Klaus Wicher: Hamburg hat sich ja schon dazu bekannt, bis 2045 klimaneutral
zu werden. Das ist verlässlich, das unterstützten wir. Ich habe ein Problem
damit, dass die Volksinitiative dieses Klimaziel nun um fünf Jahre
vorziehen will. Dadurch werden zusätzliche Belastungen auf die Menschen
zukommen. Dabei sind sie bei vielen hier in Hamburg schon jetzt enorm: 20
Prozent der Menschen in Hamburg leben in Armut. Wenn es durch den
Zukunftsentscheid keine Belastungen für diese Menschen geben würde, dann
immerzu! Wir haben nur die Sorge, dass das mit diesem Gesetzesvorschlag der
Initiative nicht funktionieren wird.
taz: Frau Töllner, Sie wollen das durch eine verpflichtende
Sozialverträglichkeit verhindern. Wie soll das funktionieren?
Lou Töllner: Auf Sozialverträglichkeit soll schon nach dem geltenden Gesetz
geachtet werden, nur ist das bislang nicht verpflichtend. Das wollen wir
ändern. Unser Gesetzesvorschlag sieht vor, dass der Senat künftig bei jeder
Klimaschutzmaßnahme prüfen muss, inwiefern sie zu sozialen Härten führen.
Wenn dem so ist, muss die Politik tätig werden und für einen Ausgleich
sorgen, also etwa Förderungen oder Ausnahmeregelungen schaffen.
Wicher: Wie wollen Sie das denn machen? Wollen Sie in jedem Haushalt
nachsehen, ob das läuft? Anträge stellen geht heute schon nicht, weil die
Behörden massiv überlastet sind.
Töllner: Auch das ist ja eine Folge politischer Entscheidungen. Wenn uns
die Transformation Hamburgs zur Klimaneutralität wichtig ist, dann gibt es
auch die Möglichkeit, soziale Klimaschutzmaßnahmen zu priorisieren. Das
stärken wir, in dem wir die verpflichtende Sozialverträglichkeit ins Gesetz
schreiben.
Wicher: Sozialverträglich bedeutet: Es kommt bei keiner Maßnahme eine
Belastung für die Menschen hinzu. Das Versprechen wird nicht zu halten
sein, das müssen Sie realistisch so festhalten.
Töllner: [2][Wir argumentieren, dass eine Verzögerung von Klimaschutz
unsozialer ist.] Klimaschutz ist am Ende des Tages Sozialpolitik.
Langfristig, weil sie uns vor explodierenden Gaspreisen, sich ausbreitenden
Krankheiten und Naturkatastrophen schützt und kurzfristig, weil Maßnahmen
den Alltag von Menschen ganz konkret und unmittelbar verbessern können.
Nehmen wir den ÖPNV: Macht man ihn bezahlbar, hilft das bei der
Verkehrswende – und die Menschen profitieren sofort davon.
taz: Herr Wicher, warum haben Sie ein Problem damit, dass bei einem Erfolg
des Zukunftsentscheids Hamburg schon 2040 klimaneutral sein muss?
Wicher: Es geht um Verlässlichkeit: Alle haben sich darauf eingestellt, bis
2045 klimaneutral zu werden. Das ist ja ohnehin schon eine Herausforderung.
Der SoVD Bundesverband besitzt ja auch eine Immobiliengesellschaft und die
hat jetzt ihre Pläne ausgearbeitet, wie sie bis 2045 das Wohnen
klimaneutral macht. Nach dem Willen des Zukunftsentscheids müssten diese
Planungen über Bord geworfen werden. Das wäre ein großer und teurer Aufwand
– das ist die Realität.
Töllner: Mit Ansage wiederholt Ziele zu reißen, ist doch keine
Verlässlichkeit. Wir wollen die Klimaneutralität verantwortungsbewusst nach
vorne ziehen, um das Leben der Menschen in Hamburg zu schützen und diese
Stadt langfristig lebenswert zu erhalten.
Wicher: Wir müssen uns vor der Klimakrise schützen, ja. Aber so, wie Sie es
vorhaben, wird es nicht funktionieren.
Töllner: Dass die Transformation zu einer klimaneutralen Gesellschaft eine
gigantische Herausforderung ist, bestreite ich gar nicht. Wir stehen als
Gesellschaft aber auch vor einer gigantischen Krise, auf die auch Hamburg
nicht angemessen reagiert: Seit Jahren warnt der Klimabeirat, das
wissenschaftliche Beratungsgremium des Hamburger Senats, vor eklatanten
Lücken bei der Regelung und bei der Verlässlichkeit von Maßnahmen, die für
den Klimaschutz unternommen werden müssten. Deshalb sieht unser
Gesetzesvorschlag vor, dass jährlich überprüft wird, wo wir stehen – und
dass wir nachsteuern, wenn wir Zwischenziele reißen. Es ist jetzt schon
klar, dass das, was der Senat bislang unternimmt, nicht ausreicht.
Wicher: Gegen solche Regelungen habe ich auch gar nichts. Nur, was ist mit
denjenigen, die heute schon belastet sind: Werden die noch mehr belastet?
Wenn sie sich allein die Mieten ansehen: Viele Menschen in Hamburg müssen
dafür schon 40, 50 Prozent und mehr ihres Einkommens ausgeben.
taz: Frau Töllner, unterschätzen Sie mit Ihren Forderungen die Folgen fürs
Wohnen in Hamburg?
Töllner: Ich merke als Studentin ja selber, wie die hohen Mieten belasten.
Und wir haben mit den Mietervereinen, der Caritas oder den Gewerkschaften
viele soziale Akteure, die sich für den Zukunftsentscheid ausgesprochen
haben, weil die sagen: Klimapolitik ist immer Sozialpolitik. Andernfalls
werden die Menschen, die jetzt schon übermäßig betroffen sind, noch mehr
belastet.
Wicher: Eben! Da ist einfach nicht mehr viel Spielraum. Sie behaupten: Die
werden nicht betroffen sein, wenn wir das Klimaziel vorziehen. Die
Rechnungen sagen aber, es werden über 40 Milliarden Euro für die
energetische Sanierung benötigt. Das Geld wird nicht ohne Mieterhöhungen
aufzutreiben sein.
Töllner: Eine Studie der Baubehörde zeigt, dass mit Förderung die
Mieterhöhungen auf durchschnittlich 40 Cent pro Quadratmeter begrenzt
werden können. Gleichzeitig werden Mieter*innen dadurch aber vor
steigenden Gaspreisen und Gasnetzentgelten und Hitze im Sommer geschützt.
[3][Und um die Förderungen verbindlich zu machen und vor sozialen Härten zu
schützen, schreibt der Zukunftsentscheid eben die Sozialverträglichkeit
fest.]
Wicher: Aber wenn solche Maßnahmen kommen, dann kostet das erst einmal.
Töllner: Ja, dafür sind etwa im Immobilienbereich die 40 Milliarden Euro,
von denen sie gerade sprachen, aufzubringen. Nur: Das ist genau die Summe,
die schon bei dem bestehenden Klimaziel 2045 aufgebracht werden muss. Die
Kosten kommen ohnehin auf uns zu. Wieso sollte die Summe also steigen, nur
weil wir die Maßnahmen etwas früher umgesetzt haben wollten? Im Gegensatz
ist es doch so, dass es immer teurer wird, je länger wir warten. Denken Sie
an steigende Baukosten: Die Baubehörde musste ihre Kostenprognose allein
zwischen 2021 und 2024 um 20 Prozent nach oben korrigieren. Wenn wir
einfach abwarten, sitzen wir am Ende vor noch größeren Kosten.
Wicher: Aber nehmen wir die Immobilienunternehmen, darunter sind in Hamburg
eine Menge Genossenschaften. Die haben einen Topf für Modernisierungen und
einen für Neubau. Sie werden das Geld für energetische Sanierungen aus dem
Topf für den Neubau nehmen müssen. Das kann man machen, aber wir haben in
Hamburg eine Wohnungsnot. Wenn sie das Geld nicht aus diesem Topf nehmen
wollen, haben sie also gar nicht die Mittel, jetzt so schnell zu
investieren. Was müssen die dann also machen? Kredite aufnehmen. Die sind
aber teuer und für die Zinsen müssen zusätzliche Einnahmen geschaffen
werden, was Mietsteigerungen bedeuten wird – und damit zu einer
zusätzlichen Belastung für Mieter:innen wird.
taz: Oder der rot-grüne Senat unterstützt bei der Sanierung unter der
Voraussetzung, dass die Mieten dann nicht durch die Decke gehen.
Wicher: Da hat der Finanzsenator ja schon gesagt, dass dafür keine Mittel
vorhanden sind.
taz: [4][Das würde ich als Finanzsenator auch erst mal behaupten.]
Wicher: Ich habe nicht den Eindruck, dass der Senat nicht willens ist, die
Klimaneutralität anzustreben. Nur irgendwo muss das Geld dafür herkommen.
Töllner: Der Klimabeirat hat doch aber klargestellt, dass die bisherigen
Bemühungen nicht einmal ausreichen, um die selbstgesteckten Ziele zu
erreichen.
Wicher: Und Sie wollen sie noch verschärfen. Das kann allein schon deswegen
nicht funktionieren, weil es weder bei den Behörden, noch, um beim Wohnen
zu bleiben, in den Handwerksbetrieben genug Personal gibt, das Ihre
Forderungen umsetzen kann.
Töllner: Solche Debatten haben wir auch schon vor fünf Jahren geführt,
warum das alles nicht geht. Immer war Klimaschutz zu teuer, zu schnell, zu
unrealistisch. Wenn wir uns jetzt nicht endlich mal auf den Weg machen,
dann sitzen wir in fünf Jahren wieder hier und führen wieder dieselbe
Debatte, während die Klimakrise weiter eskaliert.
Wicher: Aber wir werden doch klimaneutral bis 2045, das ist beschlossen.
Alles andere erscheint mir überhaupt nicht realistisch zu sein – oder nur
unter zu großen Zumutungen für Menschen, die schon jetzt am Rand ihrer
Möglichkeiten stehen. Das ist eben nicht sozialverträglich und stärkt nur
diejenigen, die Klimaschutz ohnehin nicht wollen.
Töllner: Die Klima- und Umweltbehörde des Senats hat dazu ein Gutachten
erstellen lassen: [5][Da steht ganz klar drin, dass die angestrebte
Klimaneutralität bis 2040 möglich ist.] Ja, das würde eine große
Herausforderung, schreiben die Gutachter:innen, aber nochmal: Es wäre
möglich.
9 Oct 2025
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