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       # taz.de -- Stromausfall in der Ukraine: Seine eigene Arzthelferin sein
       
       > Wenn in der Ukraine der Strom ausfällt, ist es nicht einfach nur dunkel.
       > Auch medizinische Versorgung funktioniert nicht mehr. Ein
       > Erfahrungsbericht.
       
   IMG Bild: Stromausfall in der Ukraine
       
       Am Tag des bisher größten Blackouts in der Ukraine hatte ich einen Termin
       bei meiner Zahnärztin. Sie hatte einen Zeitpunkt vorgeschlagen, zu dem
       planmäßig Strom da sein sollte. Doch die russischen Raketen hatten die
       Stromversorgung so stark beschädigt, dass es nicht nach Plan verlief. Das
       An- und Ausschalten von Strom erinnert an eine Lotterie. Ob es Strom gibt
       oder nicht, ist Glücksache.
       
       Noch vor dem Krieg hatte ich beschlossen, mir einen Traum zu erfüllen: Ein
       schönes und gesundes Lächeln. Dafür musste ich eine feste Zahnspange
       bekommen. Sie wurde mir eingesetzt. Dann begann der Krieg. Unabhängig von
       Beschuss oder anderen Ereignissen muss man mit so einer Zahnspange
       mindestens zweimal pro Monat zum Zahnarzt. Ich hatte überlegt, alles sein
       zu lassen, aber die Ärztin sagte, dass ich an dem Tag, an dem der Krieg
       ende, ein schönes und gesundes Lächeln haben sollte. Dagegen lässt sich
       nichts einwenden.
       
       Und darum also wieder mal ein Zahnarztbesuch. Ich muss unbedingt eine
       Füllung erneuern lassen. Anrufen kann man die Ärztin nicht: [1][Wegen des
       Stromausfalls ist auch keine Mobilfunkverbindung möglich]. Deshalb bin ich
       pünktlich zum Termin da. In der gesamten Klinik sitzt nur meine Zahnärztin.
       Sie erwartet mich. Wir sehen uns an. Sie sagt: „[2][Es gibt keinen Strom,
       aber damit kann ich mich arrangieren].“ Sie breitet all die schrecklichen
       Pinzetten und Instrumente vor mir aus. „Die Lampe, mit der wir deine
       Füllung trocknen, hat noch ein bisschen Strom, das genügt. Leider ist meine
       Assistentin nicht gekommen, deshalb musst du selber assistieren. Bist du
       bereit?“ – „Natürlich bin ich bereit“, antworte ich.
       
       Auf Bitte der Ärztin schaltete ich meine Handy-Taschenlampe an und
       leuchtete mir nach ärztlichen Anweisungen selber in den Mund. Daneben
       musste ich die Instrumente anreichen und die ganze Prozedur auch noch
       aushalten, die ich schon seit meiner Kindheit so gar nicht mag. Aber die
       Füllung wurde erneuert, die Zahnspange neu eingestellt. Strom gab es erst
       nach mehreren Tagen wieder.
       
       In Odessa bezeichnen wir das als Erfahrung oder Erlebnis. [3][Wegen der
       Stromsperren fahren zum Beispiel keine Trolleybusse mehr]. Wir erleben
       jetzt das Fahrradfahren und gehen viel zu Fuß. Essen kochen wir jetzt auf
       einem Campingkocher. Ein Freund von mir hat eine Bierdose aufgeschnitten
       und sie auf den Kopf gestellt, sodass die gewölbte Unterseite oben ist.
       Dorthinein hat er Öl gegossen, hat eine Kerze in die Dose gestellt und brät
       so kleine Fischstückchen. Unsere Aufgabe ist: Überleben.
       
       Meine Ärztin sagt, dass an dem Tag, an dem der Krieg zu Ende geht, am Tag
       unseres Sieges, meine Zähne gesund sein sollen und mein Lächeln
       unwiderstehlich. Beim letzten Termin sagte sie, dass ich die Spange noch
       zwei, drei Monate tragen muss. Wie ich darauf warte!
       
       Aus dem Russischen von [4][Gaby Coldewey] 
       
       Finanziert wird das Projekt von der [5][taz Panter Stiftung]. 
       
       Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der [6][Verlag edition.fotoTAPETA]
       im September herausgebracht
       
       15 Dec 2022
       
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   DIR [5] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=245248
   DIR [6] https://www.edition-fototapeta.eu/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tatjana Milimko
       
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