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       # taz.de -- Studie zu Verteidigungsbudgets: Militärausgaben im Visier
       
       > Die Nato gibt mehr Geld für Verteidigung aus als Russland – und
       > diskutiert dennoch über Aufrüstung. Braucht es mehr Mittel oder mehr
       > Effizienz?
       
   IMG Bild: Die Bundeswehr kann sich über mehr Mittel freuen: Fallschirmjäger 2018 bei einer Übung
       
       Berlin taz | Die Gegner*innen der Aufrüstung berufen sich auf die
       elementare Algebra: „Schon jetzt übersteigen die ‚Verteidigungsausgaben‘
       aller 30 Nato-Staaten die russischen um fast das Zwanzigfache“, heißt es
       [1][im Appell „Nein zum Krieg“], der vergangene Woche veröffentlicht wurde.
       Bela B., Gregor Gysi und Margot Käßmann gehörten zu den
       Erstunterzeichner*innen. Mittlerweile haben über 30.000 Personen den
       offenen Brief unterschrieben. Es ist der bisher größte Einspruch gegen das
       Regierungsvorhaben, Kredite in Höhe von 100 Milliarden Euro für die
       Bundeswehr aufzunehmen.
       
       Und seine Autor*innen berufen sich auf die Grundrechenarten, denen
       zufolge die Sache auf dem Papier eindeutig ist: Umgerechnet 65 Milliarden
       US-Dollar gab Russland angeblich 2019 für die Verteidigung aus. Mehr als 1
       Billion Dollar waren es in den Nato-Staaten. Schon jetzt ein Vielfaches –
       wozu also noch weiter erhöhen?
       
       Nun ja: Ganz so leicht lassen sich die Zahlen nicht gegenüberstellen. Wer
       halbwegs vergleichbare Werte haben möchte, so ein häufiges Gegenargument,
       müsse die unterschiedliche Kaufkraft miteinberechnen. Aufgrund der
       unterschiedlichen Lohnniveaus kostet etwa ein russischer Offizier viel
       weniger als ein US-amerikanischer oder ein deutscher.
       
       Zwei Forscher des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC)
       haben die Verteidigungsbudgets nun unter Berücksichtigung dieses Faktors
       verglichen. In einer Kurzstudie im Auftrag von Greenpeace schreiben die
       Autoren Markus Bayer und Max Mutschler, angesichts der „russischen
       Aggression gegen die Ukraine“ sei es „richtig, die Fähigkeiten zur
       Verteidigung zu erhöhen“. Sie kommen aber zum Ergebnis, dass die
       Militärausgaben des Westens auch kaufkraftbereinigt die russischen deutlich
       übersteigen. Am Geld liege es also nicht.
       
       ## Ausgaben der Nato-Staaten sind höher
       
       Grundlage des BICC-Vergleichs sind einerseits die Zahlen des schwedischen
       Friedensforschungsinstituts Sipri, das jedes Jahr weltweit Militärausgaben
       analysiert, und andererseits [2][Daten des australischen
       Politikwissenschaftlers Peter E. Robertson], der für über 50 Staaten die
       Werte um die Kaufkraftunterschiede bereinigt hat. Der russische Etat ist
       demnach statt der nominellen 65 Milliarden Dollar tatsächlich über 200
       Milliarden Dollar wert. Die Ausgaben der Nato-Staaten sind aber auch so
       gerechnet in Summe noch sechsmal so hoch; die der europäischen
       Bündnismitglieder zumindest noch mehr als doppelt so hoch.
       
       Fragezeichen muss man auch hinter die Aussagekraft dieser Zahlen setzen. So
       beruhen Robertsons Umrechnungen in Teilen auf Schätzungen. Einige
       Expert*innen nehmen zudem an, dass das russische Militär über öffentlich
       nicht einsehbare Schattenhaushalte noch mehr Geld bekommt als in den
       Sipri-Zahlen ersichtlich. Und die BICC-Autoren schreiben selbst, dass
       „kaufkraftbereinigte Berechnungen nur Sinn machen, wenn die jeweiligen
       Staaten ihre Rüstungsgüter überwiegend selbst produzieren“ – was bei
       Russland der Fall ist, bei einigen Nato-Staaten dagegen nicht. Generell
       sage „der monetäre Input nur begrenzt etwas über den militärischen Output“.
       
       Und doch: Angesichts des enormen Gefälles bei den vorliegenden Zahlen könne
       es „nicht in erster Linie an mangelndem Geld liegen, wenn Deutschland und
       seine Nato-Partner der Ansicht sind, sie könnten einen russischen Angriff
       nicht oder nur bedingt abschrecken“. Alexander Lurz vom Auftraggeber
       Greenpeace sagt: „Bevor die Ampel jetzt der Rüstungsindustrie den
       100-Milliarden-Scheck ausstellt, sollte zunächst klar analysiert werden,
       warum es bislang nicht zu Sicherheit geführt hat, dass der Westen Hunderte
       von Milliarden mehr für das Militär aufgewendet hat.“
       
       Die Bundestagsabgeordnete Sara Nanni stimmt der Schlussfolgerung nur zum
       Teil zu. „Man kann natürlich argumentieren, dass die Nato in der
       Vergangenheit besser hätte gemeinsam beschaffen können. Aber das ist ein
       bisschen wie ‚Hätte, hätte, Fahrradkette‘, und man sollte nicht so tun, als
       wäre es damit getan, das Geld einfach nur effizienter einzusetzen“, sagt
       die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. „Man muss aber
       natürlich schauen, was sich optimieren lässt. Da gibt es noch Potenzial.“
       
       ## Reform des Beschaffungswesens
       
       Es ist eine knifflige Ausgabe: Bei der Reform des Beschaffungswesens sind
       mehrere Bundesregierungen hintereinander gescheitert. Die Ampel startet nun
       einen neuen Versuch, will aber parallel dazu schon damit beginnen, die
       zusätzlichen Mittel auszugeben. Ein Teil des neuen Ansatzes könnte sein,
       auf teure Speziallösungen zu verzichten. Die Koalition habe sich darauf
       verständigt, „jetzt Produkte zu kaufen, die am Markt etabliert sind, die
       nicht entwickelt werden müssen, die bereits funktionieren, damit wir sehr
       schnell etwas haben“, sagte der FDP-Abgeordnete Marcus Faber am Mittwoch
       während der Haushaltsdebatte im Bundestag.
       
       Schon im Koalitionsvertrag hatte die Ampel vereinbart, die
       „rüstungstechnische Zusammenarbeit in Europa“ zu stärken. Auch Sara Nanni
       von den Grünen verweist darauf – sieht aber noch Hürden. „Aktuell gibt es
       auf Nato- oder EU-Ebene keine große Koordination zur gemeinsamen
       Beschaffung. Da herrscht auch in der aktuellen Situation noch viel
       Nationalstaaterei“, sagt sie. Ein Impuls zur Veränderung könne am ehesten
       auf Ebene der Staats- und Regierungschefs gesetzt werden. „Ich fände es
       gut, wenn Deutschland da eine treibende Rolle einnehmen würde.“ Dem würden
       wohl auch die Autoren der BICC-Studie zustimmen: Auch sie werben in ihrem
       Papier für gemeinsame europäische Rüstungsprojekte, um „effizienter mit den
       bereits jetzt immensen Summen zu haushalten und diese mittel- bis
       langfristig wieder zu reduzieren“.
       
       Allerdings könnte es auch sein, dass die Militärausgaben langfristig hoch
       bleiben. Die Pläne der Ampel sehen zunächst vor, den regulären
       Verteidigungsetat (der zuletzt schon von 32 Milliarden Euro im Jahr 2014
       auf knapp 47 Milliarden im Jahr 2021 gestiegen war) bis 2026 durchgängig
       über 50 Milliarden zu halten. Gäbe die Regierung zusätzlich jedes Jahr 20
       Milliarden Euro aus dem neuen Sondervermögen aus, könnte sie fünf Jahre
       lang in etwa die Nato-Vorgabe erfüllen, 2 Prozent der Wirtschaftskraft ins
       Militär zu stecken.
       
       Und dann? Um die 100-Milliarden-Kredite aufzunehmen, will die Ampel das
       Grundgesetz ändern. Dafür benötigt sie die Stimmen der Union – und deren
       Fraktionschef Friedrich Merz stellte in der Haushaltsdebatte des Bundestag
       Bedingungen. Eine davon: „Die 2 Prozent des BIP müssen dauerhaft erreicht
       werden und nicht nur einmalig.“ Für den Fall müsste für die Zeit ab 2027
       neues Geld her; wenn nicht über weitere Kredite oder höhere Steuern, dann
       über massive Einsparungen an anderer Stelle. Über diese Aussicht sind in
       der Ampel nicht alle begeistert.
       
       Ohne CDU und CSU wird es verfassungsrechtlich saubere Kredite aber kaum
       geben. Bevor die Ampel das neue Geld für die Bundeswehr wirklich einplanen
       kann, sind also noch einige Gespräche nötig.
       
       28 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Unterschriften-gegen-Aufruestungsplaene/!5841133
   DIR [2] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/roiw.12536
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
       ## TAGS
       
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