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       # taz.de -- Suchthilfeexpertin über „Crack-Epidemie“: „Der Handlungsdruck steigt“
       
       > Crack breitet sich aus. Christine Tügel von der Drogenberatung Drob Inn
       > in Hamburg warnt vor einer wachsenden Verelendung in der Szene.
       
   IMG Bild: Konumräume sind Teil der Lösung – nicht Teil des Problems, sagt Christine Tügel, Leiterin des Drob Inn am Hamburger Hauptbahnhof
       
       taz: Frau Tügel, in vielen deutschen Städten scheint der [1][Konsum harter
       Drogen in den letzten Monaten massiv gestiegen zu sein] – vielerorts wird
       von einer regelrechten „Crack-Epidemie“ in den Medien berichtet. Aus
       Hamburg hingegen hört man nicht viel. Warum? 
       
       Christine Tügel: In einigen Städten Deutschlands ist der Crackkonsum ein
       neues Phänomen. In der Hamburger Drogenszene hingegen wird Crack seit
       Jahrzehnten regelhaft konsumiert und ist Bestandteil polyvalenter
       Konsummuster. Das heißt, es werden gleichzeitig oder nacheinander mehrere
       Substanzen konsumiert. So stellen wir bei den Konsumvorgängen in unserem
       Rauchkonsumraum fest, dass die Klient*innen zu einem Drittel angeben,
       Kokain oder Crack zu nehmen, zu einem Drittel Heroin und zu einem Drittel
       beides.
       
       Sind es insgesamt mehr Konsument*innen geworden? 
       
       Die Anzahl der Personen am Drob Inn ist in den letzten Jahren relativ
       stabil geblieben. Sie sind während der Pandemie nur sichtbarer geworden,
       weil andere Orte für den Aufenthalt weggefallen sind. Das Drob Inn wurde
       als systemrelevant eingestuft, hatte durchgängig während der Pandemie
       geöffnet und die Klient*innen durften sich hier auch in größeren Gruppen
       versammeln. Natürlich nicht so eng, wegen des Abstandsgebots. Daher haben
       sich die Menschen etwas weiter über die Fläche vor dem Drob Inn verteilt.
       Das ist geblieben. Dadurch sieht es aus, als wären es mehr Menschen als vor
       der Pandemie.
       
       Wie hat sich die Szene in den vergangenen Jahren verändert? 
       
       Obdachlosigkeit war schon immer ein Problem, von dem drogenabhängige
       Menschen besonders betroffen waren, sie hat aber in den letzten Jahren
       nochmals stark zugenommen. Dabei ist die Wohnsituation ein Schlüssel für
       gesellschaftliche Integration oder Teilhabe. Damit einhergehend ist eine
       wachsende Verelendung unter den Abhängigkeitserkrankten zu beobachten. Es
       sind mehr Menschen in desolater körperlicher Verfassung zu sehen, mit
       großen Verbänden und amputierten Gliedmaßen, auf Gehhilfen und Rollstühle
       angewiesen. Wenn komplexe Wundsituationen nicht behandelt werden, kann dies
       zu Amputationen von Gliedmaßen führen. Manche sind gar nicht
       krankenversichert.
       
       Die Krankenversicherung müsste bei den meisten doch das Sozialamt
       übernehmen. 
       
       Das ist im Prinzip richtig, sofern von dort Leistungen bezogen werden. Dies
       ist aber nicht bei allen der Fall. Wer zum Beispiel gerade aus der Haft
       entlassen worden ist, ist nicht krankenversichert. Wer Beitragsschulden
       hat, muss sich zunächst um eine Schuldenregulierung bemühen. Das ist dann
       ein bürokratischer Vorgang, um den man sich erst mal kümmern muss. Wenn man
       keinen Personalausweis hat, geht sowieso gar nichts. Aufgrund der
       Abhängigkeitserkrankung schaffen es viele nicht, diese bürokratischen
       Hürden zu nehmen. Oft holen sich Abhängigkeitserkrankte erst sehr spät
       medizinische Hilfe.
       
       Weil sie nicht zum Arzt wollen? 
       
       Die späte Inanspruchnahme von Hilfen ist die negative Folge der
       Stigmatisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen. Es ist für
       viele Menschen schwer, sich trotz der bestehenden Vorurteile beim Arzt
       nicht als abhängigkeitserkrankt zu outen. Zudem bestehen seitens der
       Klientel erhebliche Schwellenängste bei der Nutzung der medizinischen
       Regelversorgung, da sie dort aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes
       oftmals nicht erwünscht sind. Die Stigmatisierung ist beinahe wie eine
       zweite Krankheit, weil sie die Menschen zusätzlich zu ihrer
       Abhängigkeitserkrankung sehr belastet. Es ist eine gesamtgesellschaftliche
       Aufgabe, gegen die bestehenden Vorurteile gegenüber abhängigkeitserkrankten
       Menschen vorzugehen, denn die Betroffenen sind weder willensschwach noch
       selbst schuld an ihrer Krankheit.
       
       Denken Sie nicht, dass die meisten um die Gefahren wissen, wenn sie
       anfangen zu konsumieren? 
       
       Abhängigkeitserkrankungen haben viele Ursachen. Der Konsum von Alkohol und
       Nikotin ist trotz seiner bekannten gesundheitlichen Risiken weit
       verbreitet. Alle, die schon einmal versucht haben, mit dem Rauchen
       aufzuhören, wissen, wie schwierig es ist, das eigene Verhalten zu ändern.
       Dies gilt übrigens auch für Menschen mit Asthma, Diabetes oder
       Bluthochdruck, denen eine Verhaltensänderung trotz ärztlicher Empfehlung
       häufig nicht gelingt. Letztlich muss es darum gehen, abhängigkeitserkrankte
       Menschen nicht auszugrenzen.
       
       Wie steht es um die psychische Gesundheit der Abhängigen? 
       
       Ein großer Anteil der Menschen, die zu uns kommen, haben neben der
       Abhängigkeitserkrankung gleichzeitig eine oder mehrere andere psychische
       Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. Leider fehlt es an einer
       psychiatrischen Versorgung direkt vor Ort. Hilfreich und notwendig wäre der
       unkomplizierte Zugriff auf psychiatrische Fachexpertise, denn das
       Regelsystem ist zu hochschwellig.
       
       Warum gibt es für Crack kein Substitut? 
       
       Wahrscheinlich war das Problembewusstsein bisher nicht groß genug. Die
       Ausbreitung des Crackkonsums innerhalb Deutschlands führt nun zu mehr
       Aufmerksamkeit und auch Handlungsdruck. Es werden aktuell Modellvorhaben
       zur Behandlung von Crackabhängigkeit diskutiert, die einen
       pharmakologischen Substitutionsansatz verfolgen. Genauso wichtig wird aber
       die psychosoziale Betreuung inklusive psychiatrischer Behandlung sein, in
       einem möglichst geschützten Rahmen, der die Wiederherstellung des
       Tag-Nacht-Rhythmus, eine regelmäßige Ernährung und Medikamenteneinnahme
       unterstützt.
       
       Hamburg begegnet der Drogenszene zunehmend mit Repression statt mit
       Gesundheits- und Sozialarbeitsangeboten. Geht das Kalkül auf, eine
       Sogwirkung gegenüber den Szenen aus anderen Städten zu verhindern? 
       
       Ich glaube nicht, dass sich Menschen in eine fremde Stadt bewegen, allein,
       um dort Drogen zu konsumieren. Das beobachten wir hier auch nicht, die
       meisten sind in Hamburg geboren oder leben seit vielen Jahren hier. Aber
       [2][die Diskussion um die Sogwirkung] kennen wir seit den 2000er Jahren.
       Dabei ist es genau anders herum: Die Einrichtungen sind dort hingegangen,
       wo sie die Abhängigkeitserkrankten mit ihren Hilfeangeboten erreichen und
       gleichzeitig, wie im Falle des Drob Inn, den Hauptbahnhof und die
       umliegenden Stadtteile entlasten. Sie sind Teil der Lösung vorhandener
       Problemlagen und nicht deren Ursache.
       
       Im Vergleich zu anderen Städten gilt Hamburg als fortschrittlich, was
       Drogenhilfe angeht. Was funktioniert denn hier vielleicht besser als in
       anderen Städten? 
       
       Wir haben mit Unterstützung der Hamburger Behörden schon Ende der 90er
       Jahre auf den ansteigenden Crackkonsum reagiert. Neben dem Druckraum für
       intravenösen Konsum haben wir bundesweit die ersten Rauchkonsumplätze
       eröffnet. Außerdem haben wir Anfang der 2000er Jahre Ruheplätze für
       Crackkonsument*innen eingerichtet. Bei hochfrequentem Konsum kommen
       sie oft tagelang nicht aus dem Kreislauf von Besorgen, Konsumieren, erneut
       Besorgen heraus, bis sie zusammenbrechen oder das Geld alle ist. Bei uns
       können sie sich erholen und die Unterbrechung der Konsumphase nutzen, um
       sich um andere, für sie ebenso wichtige Dinge zu kümmern. Die Ruheplätze
       haben 24 Stunden geöffnet.
       
       Ist es nicht frustrierend, dass die Menschen trotzdem immer stärker
       verelenden? 
       
       Natürlich ist es frustrierend, dass die Menschen immer stärker verelenden,
       aber die Arbeit in der Suchthilfe an sich ist nicht frustrierend. Sie ist
       sehr sinnvoll und unsere Angebote werden von vielen abhängigkeitserkrankten
       Menschen sehr gut angenommen. Enttäuschend ist jedoch, dass die Tendenz zur
       gesellschaftlichen Ausgrenzung suchtkranker Menschen eher zunehmend als
       abnehmend ist. Da gibt es noch viel zu tun.
       
       1 Feb 2024
       
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