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       # taz.de -- Südkorea in der Coronakrise: Musterschüler vor Zerreißprobe
       
       > Südkorea zeigt die Fragilität des neuen Normalzustands: Christliche
       > Coronaleugner sind für hohe Infektionszahlen verantwortlich – wieder
       > einmal.
       
   IMG Bild: Gesundheitsbeamte desinfizieren am Dienstag, 18. August, die Bankreihen einer Kirche in Yoido, Seoul
       
       PEKING taz | Jun Kwang Hun ist derzeit der berüchtigste Coronapatient
       Südkoreas: Noch am Samstag hat der mächtige Pastor tausende, meist ältere
       Anhänger seiner „Sarang Jeil“-Kirche mobilisiert, um in der Innenstadt
       Seouls zu protestieren.
       
       Dabei verunglimpfte der 63-jährige Evangelikale den Staatspräsidenten Moon
       Jae In als „nordkoreanischen Spion“, beschimpfte dessen [1][Regierung] als
       „kommunistisch“ und verbreitete krude Corona-Verschwörungstheorien.
       
       Zwei Tage später hat sich Jun selbst mit dem Virus angesteckt – genau wie
       bislang 568 Mitglieder seiner Gemeinde. Noch im Notarztwagen sieht man den
       Pastor, wie er seinen Mundschutz demonstrativ unterm Kinn trägt.
       
       Zu Recht gilt Südkorea als [2][Coronamusterschüler]. Kaum ein Land hat die
       Pandemie derart rasch unter Kontrolle bekommen: [3][Mit aggressivem
       „Contact Tracing“] und strikter Maskenpflicht konnten die Koreaner bereits
       mehrere große Infektionswellen abwenden – ohne weder einen Lockdown
       verhängt [4][noch seine Grenzen vollständig geschlossen zu haben].
       
       ## Die Furcht vorm exponenziellen Wachstum
       
       Die täglichen Ansteckungen haben sich bei einer Bevölkerungsgröße von 51
       Millionen im niedrigen zweistelligen Bereich eingependelt, bislang sind nur
       knapp mehr als 300 Menschen an dem Virus gestorben.
       
       Nun jedoch stehe das Land vor dem Abgrund, wenn man den Regierungsbeamten
       in Seoul zuhört: „Wir betrachten die derzeitige Situation als
       Anfangsstadium einer flächendeckenden Übertragung“, sagte Jung Eun Kyeong,
       die Leiterin der koreanischen Behörde zur Seuchenprävention, während einer
       Pressekonferenz am Montag.
       
       Wenn die derzeitige Verbreitung nicht kontrolliert werden könne, dann müsse
       man mit einem exponenziellen Wachstum der Infektionszahlen und
       infolgedessen Kollaps des Gesundheitssystems rechnen.
       
       Auch Kwon Jun Wook, Leiter des nationalen Gesundheitsinstituts, nahm kein
       Blatt vorm Mund: Der Ausbruch in der „Sarang Jeil“-Kirche bringe das Land
       an den Rand der größten Krise seit Beginn des Corona-Ausbruchs, die
       möglicherweise im dicht besiedelten Großraum Seoul mit seinen 26 Millionen
       Einwohnern zu „leidvollen Szenen wie in den USA oder europäischen Ländern“
       führen würde.
       
       Die Zahlen selbst geben noch keinen Grund zur Panik: Seit einigen Tagen
       jedoch liegen sie so hoch wie seit Anfang März nicht mehr, am Mittwoch
       waren es zuletzt 297 Neuinfektionen.
       
       ## Die Behörden sind nervös
       
       Doch wer die beengten Wohnverhältnisse in Südkoreas Hauptstadt kennt, kann
       die Nervosität der Behörden nachvollziehen. Zumal Monate voll harter
       epidemiologischer Maßnahmen nun innerhalb weniger Tage zunichte gemacht
       wurden.
       
       „Wir erwarten hohe Infektionszahlen für die nächste Zeit. Die Situation ist
       ernst“, sagte Präsident Moon Jae In am Sonntag.
       
       Vor allem hätte die Situation verhindert werden können: [5][Die erste
       Coronawelle hatte sich nämlich Ende Februar ebenfalls in Gotteshäusern
       ausgebreitet, damals innerhalb der mysteriösen Shincheonji-Sekte.]
       
       Damals soll der 88-jährige Gründer Lee Man Hee – mittlerweile in Haft –
       seinen Anhängern angeordnet haben, nicht mit den Behörden zu kooperieren.
       Über 5.000 Infektionen gingen auf die Sekte zurück. Zu der Zeit war
       Südkorea sogar das nach China am zweitschwersten vom Virus betroffene Land.
       
       ## Manche Kirchengemeinden wollen nicht hören
       
       Doch haben einige christliche Gemeinden offenbar noch immer nicht aus den
       Fehlern der Vergangenheit gelernt. Trotz mehrfacher Bitten des Präsidenten
       rufen sie weiterhin zu Großdemonstrationen auf. Sie lassen ihre
       Gemeindemitglieder ohne die vorgesehenen Abstandsmaßnahmen und Masken
       zusammen Gottesdienst feiern, gemeinsam singen und Mahlzeiten einnehmen.
       
       Auch bei der Spurensuche nach neuen Infizierten blockieren die christlichen
       Coronaleugner die Arbeit der Behörden: Laut der Polizei in Seoul wurden
       zwar bereits 3.275 der rund 4.000 Mitglieder der „Sarang Jeil“-Kirche auf
       das Virus getestet. Doch 404 Kirchgänger seien derzeit untergetaucht und
       unauffindbar.
       
       Bislang hatten die Gemeinden für ihren Widerstand wenig Konsequenzen
       erleiden müssen.Das hat vor allem einen Grund: Die großen Megakirchen
       Südkoreas mit teilweise mehreren zehntausenden Anhängern üben vor allem
       unter konservativen Kreisen einen immensen politischen Einfluss aus. Die
       christliche Wählerbasis zu verschrecken kann sich kein Präsident erlauben.
       
       ## Regierung verordnet wieder harte Restriktionen
       
       Nun jedoch geht das fahrlässige Verhalten einer einzelnen Gruppe gegen das
       Wohl der Allgemeinheit, wie Premierminister Chung Se Kyung am Dienstag vor
       der Presse erklärte: Die Fußballstadien, deren Zuschauerränge bereits zu 30
       Prozent gefüllt werden durften, müssen jetzt wieder ohne Publikum
       auskommen. Schulklassen müssen ihre Klassengröße mindern und notfalls auf
       Onlinelearning ausweichen. Und vor allem: Kirchen dürfen Gottesdienste
       jetzt nur noch streng ohne Körperkontakt abhalten.
       
       Ob sich jedoch auch alle Gemeinden daran halten werden, darf stark
       bezweifelt werden.
       
       20 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR Fabian Kretschmer
       
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