URI: 
       # taz.de -- Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung: Nicht unter Kontrolle
       
       > Die Pandemie verschärft die Lage für Betroffene von Genitalverstümmelung
       > und Frauen, die davon bedroht sind. Expert:innen sind alarmiert.
       
   IMG Bild: Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung 2019: Aktion der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes in Berlin
       
       Berlin taz | Die Coronapandemie führt Ärztinnen und Expertinnen zufolge
       dazu, dass Mädchen und Frauen in Deutschland stärker von weiblicher
       Genitalverstümmelung bedroht sind. Betroffene könnten in der Krise außerdem
       schlechter versorgt werden.
       
       Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes warnt insbesondere vor den
       Konsequenzen durch die drastische Einschränkung sozialer Kontakte, den
       Rückgang regelmäßiger Arztbesuche und geschlossene Schulen. Dadurch fielen
       fast alle niedrigschwelligen Anlaufstellen weg, denen sich bedrohte Mädchen
       anvertrauen könnten, so die Organisation vor dem internationalen Tag gegen
       weibliche Genitalverstümmelung am Samstag.
       
       „Konkrete Fälle von Verstümmelungen während der Pandemie sind uns in
       Deutschland bisher nicht bekannt“, sagt Referentin Charlotte Weil. „Aber es
       liegt nahe und wir haben die große Sorge, dass Familien, die derzeit nicht
       ausreisen können, weibliche Genitalverstümmelung während der Pandemie auch
       hierzulande praktizieren.“
       
       Schätzungen zufolge gibt es weltweit mehr als 200 Millionen Betroffene, die
       Dunkelziffer liegt weit höher. Für Deutschland geht Terre des Femmes von
       mindestens 20.000 bedrohten Mädchen und [1][knapp 75.000 betroffenen
       Frauen] aus. Die meisten hierzulande betroffenen sind aus Ländern
       eingewandert, in denen die Praxis weit verbreitet ist. In manchen Staaten
       sind über 80 Prozent der weiblichen Bevölkerung verstümmelt. In
       europäischen Ländern selbst werde die Praxis meist im Verborgenen
       durchgeführt, sagt Weil. Deshalb sei es wichtig, die Zeichen zu deuten,
       wenn Mädchen bedroht seien.
       
       ## Die Zeichen richtig deuten
       
       Zeichen deuten – genau das macht Fadumo Korn normalerweise. Die gebürtige
       Somalierin wurde als Kind selbst verstümmelt und lebt seit 1979 in
       Deutschland. Sie arbeitet bei Donna Mobile in München, einer Gesundheits-
       und Beratungseinrichtung für Migrant:innen. In pandemiefreien Zeiten
       besucht Korn die Familien unterschiedlicher Communities und baut Vertrauen
       auf, zum Beispiel durch Beratungen über Probleme mit Schulen oder Behörden.
       
       „Aber natürlich habe ich vor allem im Blick, ob in Sachen FGM alles in
       Ordnung ist“, sagt Korn. FGM steht für Female Genital Mutilation, den
       englischen Begriff für weiblicher Genitalverstümmelung. „Das Thema
       vorsichtig und wie nebenbei einzubringen und die Eltern aufzuklären und
       davon abzubringen – das geht jetzt nicht mehr“, so Korn.
       
       Bei ihrer Arbeit gehe es viel darum, Atmosphärisches wahrzunehmen, auf
       Mimik und Gestik zu achten und Momente abzupassen, um mit Müttern oder
       Töchtern allein zu sprechen. Jetzt finden zwar Online-Beratungen mit
       Familien statt, die sich wegen familiärer Probleme an sie wenden. „Aber mir
       fehlt völlig das Gefühl für das, was in den Familien eigentlich passiert.
       Wir haben die Situation nicht mehr unter Kontrolle.“
       
       Korn fürchtet, dass der Druck aus den Heimatcommunities, Verstümmelungen
       vorzunehmen, momentan stark sein könnte. Dabei gebe es Formen von
       Verstümmelungen, die ungeübte Kinderärzt:innen nicht unbedingt erkennen
       würden: Verletzungen wie die, die Spitze der Klitoris abzuschneiden zum
       Beispiel. So etwas, vermutet Korn, passiere auch in Deutschland. „Momentan
       kann ich nichts dagegen tun.“
       
       ## Derzeit keine Operationen
       
       Schwierig sei die Situation auch für junge Frauen, die schon verstümmelt
       sind und derzeit schwanger. In pandemiefreien Zeiten begleitet Korn sie zu
       Ärzt:innen und Hebammen, die Erfahrungen mit FGM haben, und unterstützt
       sie bei der Entscheidung, ob die Frauen für die Entbindung vaginal
       aufgeschnitten werden oder einen Kaiserschnitt bekommen. Oft ist sie sogar
       bis kurz vor der Operation dabei, was momentan ebenfalls nicht möglich ist.
       „Das sind retraumatisierende Situationen für viele Frauen“, sagt Korn. „Das
       Elend ist groß.“
       
       Cornelia Strunz, Oberärztin im Desert Flower Center im Berliner Krankenhaus
       Waldfriede, bietet in pandemiefreien Zeiten Beratungen an und leitet eine
       Selbsthilfegruppe zu weiblicher Genitalverstümmelung. Die Treffen der
       Gruppe mussten coronabedingt unterbrochen werden, auch die persönlichen
       Beratungen waren lange ausgesetzt. „Ich sehe seit Monaten sehr viel weniger
       Frauen“, sagt Strunz.
       
       Das habe auch damit zu tun, dass Sozialarbeiter:innen und
       Jugendhelfer:innen weniger Möglichkeiten hätten, in die Familien zu
       gehen und die Beratungen ins Spiel zu bringen. „Da besteht gerade gar kein
       Kontakt mehr“, sagte Strunz. Telefonsprechstunden seien nun zwar möglich.
       Dabei aber sei es viel schwerer, Vertrauen aufzubauen.
       
       Auch die [2][Operationen zur Rekonstruktion von Genitalien], die
       normalerweise in der Klinik gemacht werden, sind derzeit noch ausgesetzt.
       „Wir dürfen hier momentan leider nur Notfalloperationen machen“, sagte
       Strunz. Das schreibe der Berliner Senat so vor, es sei aus ihrer
       Perspektive aber auch sinnvoll: Die Frauen, die in der Klinik operiert
       werden, seien zumeist tief traumatisiert.
       
       Besuche von Vertrauenspersonen seien deshalb wichtig, derzeit aber genau so
       wenig möglich wie verlässliche Terminabsprachen. Eine lang geplante,
       sensibel vorbereitete Operation aufgrund einer veränderten Infektionslage
       kurzfristig wieder abzusagen, wäre in Fällen wie diesen extrem belastend.
       „Ich sage meinen Patientinnen deshalb momentan allen: Ich melde mich, wenn
       wir wieder operieren können“, sagt Strunz.
       
       6 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Weibliche-Genitalverstuemmelung/!5632582
   DIR [2] /Aerztin-ueber-Genitalverstuemmelung/!5737398
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patricia Hecht
       
       ## TAGS
       
   DIR Genitalverstümmelung
   DIR Geflüchtete Frauen
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Genitalverstümmelung
   DIR Genitalverstümmelung
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Sudan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Projekt gegen Genitalverstümmelung: Helfen auf Augenhöhe
       
       Es gibt viel zu wenig Anlaufstellen im Kampf gegen weibliche
       Genitalbeschneidung. Rheinland-Pfalz will Betroffene nun besser schützen.
       
   DIR Ärztin über Genitalverstümmelung: „Wir dürfen nicht wegschauen“
       
       Cornelia Strunz hat das erste deutsche Fachbuch zu weiblicher
       Genitalverstümmelung mit herausgegeben. Betroffene können oft nicht
       darüber sprechen.
       
   DIR Weibliche Genitalverstümmelung: „Das passiert hier“
       
       In Deutschland sind fast 68.000 Frauen und Mädchen von
       Genitalverstümmelungen betroffen. Das sind 44 Prozent mehr als 2017.
       
   DIR Ende der Genitalverstümmelung: Ein Sieg für Sudans Frauen
       
       Neun von zehn Frauen und Mädchen sind in dem afrikanischen Land
       „beschnitten“. Nun verbietet ein neues Gesetz die Genitalverstümmelung.