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       # taz.de -- Tanztheater an der Berliner Volksbühne: Man will Teil einer Bewegung sein
       
       > Anne Teresa De Keersmaeker aus Brüssel hat erstmals eine Uraufführung in
       > Berlin herausgebracht: „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“.
       
   IMG Bild: Musiker und Tänzer bilden einen geschützten Raum auf der Bühne. „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“, Probenfoto, 2018
       
       Smart. Lässig. Machtvoll. Sexy? Ja, sexy auch. So kommen sie auf uns zu in
       ihren dunklen Anzügen aus der Tiefe der Bühne, synchron die Schritte, auch
       dort, wo sie kurz zögern, stoppen knapp an der Rampe, drehen ein wenig
       vornüber geneigt, als würde die einmal in Kraft gesetzte Dynamik die Körper
       noch über die Rampe ziehen wollen, gehen zurück und kommen wieder. Man
       möchte Teil dieser Bewegung sein, sich mitnehmen lassen von dieser Gruppe,
       auf und ab, auf und ab.
       
       So beginnen die Rosas, die Company von Anne Teresa De Keersmaeker, den
       Auftritt zum ersten der „Sechs Brandenburgischen Konzerte“ von Johann
       Sebastian Bach in der Berliner Volksbühne. Es sind 16 TänzerInnen, 4
       Frauen, 12 Männer, aber gefühlt ist die Gruppe größer.
       
       Einen Moment denkt man womöglich an die werbenden Walks der Modells bei
       großen Modenschauen. Ja, es geht durchaus auch um Begehren bei diesem Tanz.
       Begehren nach Zugehörigkeit, nach Aufgenommen-werden in den Flow, nach
       Gesehenwerden, nach Zuneigung. Und dann, je weiter der Abend von Konzert zu
       Konzert fortschreitet, nach den Möglichkeiten, sich individuell auszuformen
       in dem geschützten Raum, den die Ensembles der Musiker im Orchestergraben
       und der Tänzer auf der Bühne bilden.
       
       Das B’Rock Orchestra im Graben baut sich um zwischen den verschiedenen
       instrumentierten Konzerten, stimmt sich ein, derweil kann man den
       Silhouetten von zwei, drei Tänzern zuschauen, die sich noch wie in einem
       Nachhall des gerade Bewegten zu befinden scheinen. Die Bewegungen in diesem
       Stück, in den großen strukturierten Gruppen und in den leicht darin
       verstreuten Gesten und Posen Einzelner, haben etwas von einem Atem, einer
       Durchlässigkeit, als ob sie immer nur der sichtbare Ausschnitt aus einem
       länger währenden Prozess wären, dessen Davor und Danach jenseits der Bühne
       spielt.
       
       Tänzer und Musiker beobachten sich, sie führen einen Dialog. Dass die Musik
       live gespielt wird, gehört in vielen Choreografien von De Keersmaeker zum
       Konzept. Die Violinistin Amandine Beyer leitet das Orchester – in „Partita
       2“, einem anderen Stück mit Musik von Bach, spielt sie das Violinsolo
       einmal in völliger Dunkelheit und allein, bevor Musik und Bewegung
       zusammenkommen. Dass die Musiker die „Brandenburgischen Konzerte“ nicht
       immer perfekt spielen, mancher Ton schief klingt, überrascht. Es ändert
       nichts daran, dass die „Brandenburgischen Konzerte“ vertraut klingen, oft
       zu hören in vielen Klassikprogrammen.
       
       ## Das Ungeordnete im Harmonischen
       
       Musik, die strahlt und leuchtet, heiter und harmonisch. Das verändert die
       Interpretation durch den Tanz nicht. Aber dass dies auch ein Raum der
       Gegenwart sein kann, dass im Menschsein das Potenzial liegt, sich so
       einvernehmlich als soziales Wesen zu entfalten, ist die Behauptung des
       Stücks. Fast schon eine Utopie.
       
       Es gibt Ausdifferenzierung, aber keine Konflikte und keine Gewalt in den
       Bildern, die diese Choreografie aufruft. Das ist für ein zeitgenössisches
       Tanzstück auffallend, ja ungewöhnlich. Was auf der Bühne organisiert wird,
       gleicht der Erstellung einer Karte, auf der immer mehr Wege eingetragen
       werden. Erst entstehen die parallelen Linien von der synchronen Bewegung
       aller, dann lösen sie sich auf in Gruppen, die sich umkreisen, anstoßen,
       mitziehen, überholen, kreuzen, durchdringen.
       
       Wie das Ausscheren Einzelner wieder in die große kreisende Bewegung mit
       hineingenommen wird, wie das ganze Gefüge informiert wird von den Vorstößen
       und Regelbrüchen Einzelner, wie das Ungeordnete zum Teil des Harmonischen
       werden kann, das führen die Tänze vor.
       
       Einzelne Bewegungen mag man von der Choreografin kennen, das Spiralisieren
       um die eigene Achse, das leichtfüßige Hüpfen und Springen, das mit
       Zickzackbewegungen aus der Hüfte die Abweichung von der klassischen Linie
       zur Regel macht. Das neue Stück ist ein Echo und eine Fortführung anderer
       Stücke in ihrem Werk, nicht nur zu Kompositionen von Johann Sebastian Bach.
       Das Ensemble erreicht eine große Virtuosität in diesem Vokabular, das nie
       mit großer Geste, sondern wie beiläufig aus dem Gelenk geschüttelt
       eingesetzt wird. Sie tanzen eben, nichts wird symbolisch aufgeladen oder
       mit einer anderen Bedeutung belegt.
       
       Es war das erste Mal, dass De Keersmaeker, die mit ihrem Ensemble Rosas in
       Brüssel zu Hause ist, eine Uraufführung in Berlin herausgebracht hat, dank
       einer Kooperation der Volksbühne, vereinbart unter Chris Dercon und der
       Programmdirektorin Marietta Piekenbrock. Den langen Applaus am
       Premierenabend wird Chris Dercon, der nun nicht mehr Intendant ist, aber
       unter den Zuschauern saß, sicher genossen haben.
       
       13 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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