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       # taz.de -- Teamwork bei der Tour de France: Alle für jeden
       
       > Im Radsport gibt es Chefs und Wasserträger. Nur bei einem Team ist das
       > anders. Sunweb hat das Fahren ohne Chef bei der Rundfahrt perfektioniert.
       
   IMG Bild: Teamplayer mit Siegergen: Für Tour-Entdeckung Marc Hirschi geht es bergauf
       
       Radsport ist gewöhnlich eine durchhierarchisierte Gesellschaft. Es gibt die
       Kapitäne und [1][die sprichwörtlichen Wasserträger], dazu Spezialisten für
       Zeitfahren, Sprints und Bergfahren. Wer als Spezialist exzellent ist, kann
       Kapitän werden. Wer in seiner Spezialbegabung aber immer wieder andere an
       sich vorbeiziehen lassen muss, wird wieder degradiert und muss als
       Windbrecher die Chefs aus den bremsenden Luftströmen halten.
       
       Team Sunweb verfolgt eine andere Strategie. Man könnte sie als Feuern aus
       allen Rohren bezeichnen. „Wir sind ohne Kapitän zur [2][Tour] gekommen,
       aber mit acht starken Fahrern, von denen jeder auch seine Chance auf einen
       Etappensieg haben soll“, erzählt Nikias Arndt, Road Captain bei Sunweb. Mit
       solchen Sprüchen kommen viele Teams zur Tour, all jene, die nicht das Geld
       für einen echten Crack haben oder bei denen die Cracks verletzt sind. Sie
       gehen dann in Fluchtgruppen und versuchen ihr Glück.
       
       Was die Sunweb-Truppe bei dieser Tour von solchen Notgemeinschaften
       unterscheidet, ist die komplexe und äußerst fluide Strategie. Da greift
       nicht nur ein Fahrer an, um sein Glück zu versuchen, sondern zwei, manchmal
       sogar drei Fahrer attackieren wechselseitig und zermürben so die
       Konkurrenz.
       
       Ein Beispiel für das Radsportlehrbuch schrieb das Team auf der 14. Etappe
       von Clermont-Ferrand nach Lyon. Da attackierte im Finale zunächst der
       Belgier Tiesj Benoot. Er wurde dann aber eingefangen. Danach versuchte es
       Marc Hirschi, Etappensieger zwei Tage zuvor. Weil „Flying Hirschi“ bei der
       Konkurrenz mittlerweile gefüchtet ist, setzten ihm alle nach. Dann stob
       Søren Kragh Andersen davon, der dritte endschnelle und bergfeste Fahrer im
       Kader. Und er gewann.
       
       ## Wechselseitige Attacken
       
       „Der Plan war, offensiv zu fahren. Wir hatten vor, mit diesen drei Fahrern
       wechselseitig zu attackieren“, sagt Arndt rückblickend. „Dass Søren die
       finale Attacke gefahren hat, war eher Zufall. Man hat das ja nicht in der
       Hand. Manchmal wird auch der weggelassen, der zuerst angreift. Das wäre
       dann Tiesj gewesen.“ Oder später eben Hirschi. Und hätte es bei Kragh
       Andersen nicht geklappt, hätten es Benootj und Hirschi eben wieder
       versucht. „Man hat gesehen, dass sich bei uns ein Fahrer für den anderen
       einsetzt“, bilanzierte Arndt. Einzelkönner fügen ihre Attacken zu einer
       Sinfonie zusammen.
       
       Dieses Musikstück auf Rädern kann natürlich nur aufgeführt werden, weil die
       Interpreten sich aufeinander verlassen können. „Wenn der eine seine Körner
       verschießt, weiß er auch, der andere ist noch da. Das war ein
       Paradebeispiel für Teamarbeit“, meint Arndt.
       
       Der Road Captain war an diesem Tag noch besonders gefordert. Denn
       eigentlich hatte die Strategie ganz anders ausgesehen. „Wir wollten zwei
       Mann in der Fluchtgruppe unterbringen. Das hat auch ganz gut geklappt.“
       Doch die Gruppe blieb klein und kam auch nicht weit weg. „Also haben wir
       unsere beiden Fahrer aus der Gruppe zurückgerufen“, erzählt Arndt. Das
       löste Erstaunen aus.
       
       Arndt hatte aber einfach nur eine Mathematikaufgabe gelöst. Vorn waren zu
       wenig Beine und hinten zu viel engagierte Verfolger. „Dann haben wir Fahrer
       während des Rennens miteinander gesprochen und die Taktik für das Finale
       ausgemacht“, erzählt Arndt weiter. Da waren souveräne Arbeitnehmer im
       Einsatz, die eine Situation analysieren und zu einer kollektiven
       Entscheidung kommen. Die sportlichen Leiter im Auto konnten da bestenfalls
       zuhören. So kann Radsport also auch gehen.
       
       Ob diese Strategie dauerhaft angewendet wird, bezweifelt aber auch Arndt.
       Denn bei der Tour wurde nur aus der Not eine Tugend gemacht. Viele einstige
       Kapitäne haben das Weite gesucht, wie Tom Dumoulin oder [3][John
       Degenkolb]. Auch der letzte größere Star, der Australier Michael Matthews,
       wird zum Saisonende wechseln und wurde gar nicht erst mit zur Tour
       genommen. Der Mangel an Chefs führt zwangsläufig zur flachen Hierarchie. In
       der nächsten Saison kommt Romain Bardet. „Kann sein, dass wir da wieder
       mehr auf Klassement fahren“, sagt Arndt – und erfreut sich bis dahin am
       erfolgreichen Experiment des Fahren ohne Chefs.
       
       16 Sep 2020
       
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