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       # taz.de -- Terroranschlag in Österreich: Wien am Tag danach
       
       > Die österreichische Hauptstadt wurde von einem Terroranschlag mit bisher
       > vier Toten erschüttert. Es steckt ein dschihadistischer Täter dahinter.
       
   IMG Bild: Polizei und Kränze an einem der Orte des Geschehens in Wien, 3. November 2020
       
       Wien taz | Eine gespenstische Stille liegt über Wiens nördlicher
       Innenstadt. Am Morgen nach den jihadistischen Anschlägen vom Montagabend
       sind die Tatorte abgesperrt. Die allgegenwärtigen Polizisten lassen nur
       Anwohner durch. Am Tag eins des zweiten Corona-Lockdowns haben nicht nur
       die Gaststätten, sondern auch die meisten Läden und alle Banken
       geschlossen. Die Schulen öffneten nur für Kinder, für die die Eltern
       kurzfristig keine Betreuung organisieren konnten. Die meisten Menschen
       folgten dem Appell der Behörden, zu Hause zu bleiben und vor allem die
       Innenstadt zu meiden. Bis Dienstagnachmittag war nicht klar, ob ein
       radikalisierter Einzeltäter oder eine organisierte Gruppe für das Blutbad
       verantwortlich ist.
       
       Hundertschaften von Polizei-Einheiten setzten die Fahndung nach möglichen
       Mittätern fort. Ein Attentäter war nur neun Minuten nach dem ersten Notruf
       gestellt und erschossen worden. Er hatte offenbar wahllos auf Passanten und
       Menschen im Außenbereich von Gaststätten geschossen. Ein junger und ein
       älterer Mann sind tot. Eine Passantin und eine Kellnerin starben im
       Krankenhaus an ihren Verletzungen. Von 17 Verletzten sollen sich sieben in
       lebensbedrohlichem Zustand befinden. Ein angeschossener Polizist ist nach
       Auskunft der Ärzte „kritisch stabil“.
       
       Dienstagvormittag waren Polizisten noch damit beschäftigt,
       Zeit-Weg-Diagramme zu erstellen. Es geht darum zu ermitteln, ob ein Täter
       überhaupt in so kurzer Zeit an sechs möglichen Tatorten gewesen sein kann.
       Vielleicht waren es aber auch nur vier Tatorte. Am Nachmittag gab das
       österreichische Innenministerium bekannt, dass es keine Hinweise auf
       weitere Täter gebe. Alle Tatorte befinden sich jedenfalls innerhalb weniger
       Häuserblöcke im ältesten Teil Wiens.
       
       Zwischen Graben und Donaukanal lag das römische Militärlager Vindobona,
       dessen Grundriss in den eng verwinkelten Gassen teilweise noch heute zu
       erkennen ist. Hier liegt auch das legendäre [1][Bermuda-Dreieck nahe dem
       Schwedenplatz], wo es viele Lokale gibt, wo man lange Nächte verbringt.
       Neben hochpreisigen Gaststätten, wo die Betuchteren dinieren, finden auch
       klamme aber feierlustige Jugendliche hier ihren Lebensraum. Sie hängen mit
       Vorliebe am Franz-Josefs-Kai ab und lassen sich dort mit Alko-Pops und Bier
       volllaufen. Einen besseren Platz für ein Attentat, das möglichst viele
       lebensfrohe Menschen treffen soll, kann man schwer finden. Am lauen Abend
       vor einem vierwöchigen Lockdown herrschte das pralle Leben.
       
       ## Gratis Getränke und Gerüchte
       
       Die sozialen Medien feiern einen Mann, der dem Attentäter von seinem
       Fenster ein „Schleich di, du Oaschloch“ oder auch nur „Du Oaschloch“
       entgegengeschleudert hat. Eine typisch wienerische Reaktion auf
       unerwünschte Handlungen. Auch auf der Straße zeigte sich die Solidarität
       der Wienerinnen und Wiener. So hielt ein Straßenbahnfahrer außerhalb einer
       Station, um Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen und mehrere Hotels
       ließen gestrandete Menschen, die sich nicht nach Hause wagten, kostenlos
       übernachten.
       
       In mehreren Lokalen wurden festsitzende Gäste mit gratis Getränken
       beruhigt. Zeugen luden mehr als 20.000 Videos auf eine Plattform der
       Polizei hoch, um die Ermittlungen zu unterstützen. Zu den Helden der Nacht
       wurden zwei türkischstämmige Kampfsportler, die zuerst einer älteren Frau
       halfen, sich in Sicherheit zu bringen und dann einen verwundeten Polizisten
       zum Rettungswagen trugen. Einer von ihnen wurde dabei selbst am Bein
       angeschossen.
       
       In den sozialen Medien überschlugen sich aber auch Gerüchte. Berichte von
       „Geistertatorten“, die nur der Phantasie entsprangen, rechtsextreme
       Postings und islamistische Aufrufe, die angesichts ihrer Inhaltsleere eher
       dem Geltungsbedürfnis von Trittbrettfahrern entsprungen sein dürften, als
       dem Täterwissen einer Verschwörergruppe.
       
       Unter den Medien fiel vor allem der [2][reißerische Privatsender oe24.tv
       auf,] der praktisch in Endlosschleife die Aufnahme einer Videokamera
       zeigte, auf der man sieht, wie ein Passant vom Attentäter niedergeschossen
       wird. Mehr als 700 Beschwerden langten deswegen in der Tatnacht beim
       Presserat ein. Einige davon richteten sich auch gegen das Boulevardblatt
       Kronen Zeitung, das in seiner Onlineausgabe vorschnell einen 30jährigen
       Flüchtling als Täter festmachte.
       
       ## Der Täter war den Behörden bekannt
       
       Inzwischen hat das Innenministerium auch erste Details über den
       erschossenen Attentäter bekannt gegeben. Nach Durchsuchung seiner Wohnung,
       in die sich die Einsatzkräfte mit Sprengstoff Zugang verschafften,
       bestätigte sich der Verdacht auf seinen dschihadistischen Hintergrund. Es
       handelt sich um den 20-jährigen Kujtim F. mit
       nordmazedonisch-österreichischer Doppelstaatsbürgerschaft, er gehört zur
       albanischen Minderheit der Nordmazedonier.
       
       Als Jugendlicher hatte er versucht, sich in Syrien dem soganannten
       Islamischen Staat anzuschließen, war aber nach vier Monaten in einer
       türkischen Grenzstadt von der dortigen Polizei festgenommen und nach
       mehrwöchiger Haft nach Österreich abgeschoben worden. In Wien wurde er im
       April 2019 zu 22 Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen
       Vereinigung verurteilt, aber schon im vergangenen Dezember wieder
       entlassen. Er hatte sich im Prozess als reumütiges Opfer von Hasspredigern
       gegeben und galt als deradikalisiert.
       
       Thomas Schmidinger, Professor für Orientalistik und Dschihadismus-Experte
       in Wien neigt zur Einzeltäterthese: „Ich glaube definitiv, dass der
       Anschlag in Wien geplant worden ist und nicht in der Zentrale des IS in
       Syrien oder im Irak“, sagt er gegenüber der taz. Das Attentat sei in Wien
       verübt worden, „weil er hier sozialisiert und wohnhaft ist“. Eine
       mazedonisch-albanische Islamistenszene gebe es in Österreich nicht: „Die
       IS-Anhängerschaft in Wien ist sehr multiethnisch“, so die Einschätzung von
       Schmidinger.
       
       Der Attentäter war mit einer automatischen Waffe, einer Pistole und einer
       Machete bewaffnet. Er hätte also eine Enthauptung geplant haben können.
       Zusammenhänge mit den Anschlägen in Frankreich und der Ermordung des
       Lehrers Samuel Paty hält Schmidinger für wahrscheinlich. Er glaubt, dass
       die hetzerische antiwestliche Rhetorik des türkischen Präsidenten Recep
       Tayyip Erdoğan als weiterer Treiber fungiert haben könnte. Auch in den von
       der Türkei besetzten Kurdengebieten in Syrien seien bei antifranzösischen
       Demonstrationen IS-Symbole geschwenkt worden, so der Professor.
       
       ## Solidaritätsbekundungen und Staatstrauer
       
       Die Polizei konzentrierte ihre Nachforschungen auf das Umfeld des einzigen
       bisher bekannten Attentäters, [3][durchsuchte mehrere Wohnungen und nahm
       mehr als ein Dutzend Verdächtige fest]. Auch in Niederösterreichs
       Landeshauptstadt St. Pölten und in Linz wurden Wohnungen gefilzt und
       mutmaßliche Islamisten festgenommen.
       
       Schon davor hatte sich Van der Bellen an die Bevölkerung gewandt. Er sprach
       von einer „dunklen Nacht, die wir hinter uns haben“, es sei „ein feiges
       terroristisches Attentat auf das Herz unserer Gesellschaft“ gewesen. Der
       Hass könne aber niemals so stark sein „wie unsere Gemeinschaft in Freiheit,
       in Demokratie, in Toleranz und Liebe“. Auch Kanzler Kurz sieht den Anschlag
       motiviert durch „Hass auf unsere Grundwerte, Hass auf unser Lebensmodell“.
       
       Neben Solidaritätsadressen aus aller Welt blieben auch klare Stellungnahmen
       aller Religionsgemeinschaften nicht aus. Ümit Vural, Präsident der
       Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), verurteilte die
       Anschläge als eine „feige, abscheuliche Tat“. Über den oder die Täter wisse
       man auch nicht mehr, als das Innenministerium am Dienstag bekannt gegeben
       habe, so eine IGGÖ-Sprecherin. Man biete aber uneingeschränkte Kooperation
       mit den Sicherheitsbehörden an.
       
       Die Regierung verhängte eine dreitägige Staatstrauer. Die Fahnen vor
       öffentlichen Gebäuden wehen auf Halbmast. Am frühen Nachmittag marschierten
       die Spitzen der Republik in der Judengasse auf, gleich bei der Synagoge, wo
       die ersten tödlichen Schüsse gefallen waren. Bundespräsident Alexander Van
       der Bellen, Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler
       (Grüne), flankiert vom gesamten Kabinett, den Oppositionsführern und dem
       Wiener Bürgermeister legten Kränze mit roten und weißen Rosen nieder.
       
       3 Nov 2020
       
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   DIR Ralf Leonhard
       
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