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       # taz.de -- Theoretikerin Silke Helfrich ist tot: Immer auf unbekanntem Terrain
       
       > Sie suchte nach Alternativen zu Markt und Staat. Die bekannte
       > Commons-Theoretikerin Silke Helfrich ist bei einem Unfall ums Leben
       > gekommen.
       
   IMG Bild: Silke Helfrich
       
       Berlin taz | Unendlich neugierig war sie, voller Energie, und ihre
       Leidenschaft galt der Erforschung von unbekanntem Terrain. Das war ihre
       große Stärke, aber das wurde der international bekannten Forscherin,
       Autorin und Commons-Theoretikerin Silke Helfrich nun zum Verhängnis. Sie
       kam bei einem Absturz in den Bergen Liechtensteins am 10. November ums
       Leben.
       
       Silke Helfrich wurde 1967 in Thüringen geboren und wuchs auf einem
       Bauernhof in Sichtweite der Grenze zwischen DDR und BRD auf. Das prägte
       ihren Horizont, wie sie einmal sagte: Sie suchte nach Alternativen zu
       Realsozialismus und Kapitalismus, zu Markt und Staat.
       
       Bevor die [1][Commons] ihr großes Thema wurden, studierte sie Romanistik,
       Sozialwissenschaften und Pädagogik in Leipzig. Neben Deutsch sprach sie
       fünf Sprachen fließend. Nach der Wende leitete sie zuerst die
       Landesstiftung der Heinrich-Böll-Stiftung in Thüringen, danach deren Büros
       in San Salvador und Mexiko City.
       
       Dort stieß sie auf die Parallelen zwischen der traditionellen
       gemeinschaftliche Landnutzung durch Indigene und modernen Commons im
       Internet, etwa Wikipedia oder Linux. 2006 begegnete sie auf einem von ihr
       organisierten Kongress zu diesem Thema David [2][Bollier], mit dem sie
       viele Jahre intensiv zusammenarbeitete und 2019 ihr in [3][viele Sprachen
       übersetztes letztes Werk] „Frei, fair und lebendig: Die Macht der Commons“
       schrieb.
       
       ## Helfrich mit Ostrom befreundet
       
       Lange waren Gemeingüter in den Wirtschaftswissenschaften ignoriert oder
       abgewertet worden, bis Elinor Ostrom 2009 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis
       für Wirtschaft verliehen bekam. Anhand von rund tausend Beispielen hatte
       die US-Politologin nachgewiesen, dass Commons dauerhaft funktionieren
       können.
       
       Silke Helfrich war mit Ostrom befreundet und übersetzte sie ins Deutsche.
       Ihr ist zu verdanken, dass sich die Debatte danach immer stärker von einer
       vor allem wirtschaftlichen Perspektive emanzipierte.
       
       Nicht Güter oder Gegenstände stehen in der heutigen Commonsdebatte im
       Zentrum, sondern die Beziehungen der Beteiligten untereinander und zur
       Welt. „Man darf sich die Commons-Welt nicht vorstellen wie ein
       Schlaraffenland, sondern wie ein Picknick, zu dem alle etwas beitragen“,
       sagte sie 2019 der taz.
       
       Die Welt der Gemeingüter war für sie auch eine versunkene, in der sie sich
       wie eine Archäologin bewegte. Gemeinschaftliches Arbeiten, Teilen und Leben
       praktizierte die Menschheit seit ihrer Entstehung, doch Geld, Eigentum und
       Individualisierung im Kapitalismus haben uns das alles vergessen lassen.
       Silke Helfrich war deshalb davon überzeugt, dass wir für die Commons eine
       neue Sprache, gar eine „neue Ontologie“ brauchen, eine andere Seinsweise.
       
       ## Ihr ging es ums Teilen von Gedanken
       
       Was Silke Helfrich in ihren Texten beschreibt, die sie sich mit extremer
       Disziplin abrang, hat sie auch gelebt. Sie liebte es, vor Publikum zu
       sprechen. Aber ihr ging es dabei nicht um sich selbst, sondern ums Teilen
       von Gedanken und Ideen und die anschließende Kommunikation darüber. Wo
       immer möglich sorgte sie dafür, dass dabei alle im Kreis saßen.
       
       Silke Helfrich konnte genauso intensiv zuhören wie reden, und immer wollte
       sie verstehen, was die anderen meinten. Ihre Präsenz, ihre intellektuelle
       Strahlkraft, ihre Fähigkeit, gemeinsames Nachdenken anzuregen und
       Resonanzen zum Schwingen zu bringen, waren außergewöhnlich. Ihr liebstes
       Projekt war die [4][Commons-Sommerschule], bei der jedes Jahr etwa 20
       Menschen gemeinsam erlebten, was „Commoning“, das gemeinschaftliche Tun, in
       der Praxis bedeutet. Wichtig war auch das von ihr mitgegründete
       Commons-Institut, das im Netz kommuniziert und sich gelegentlich zum
       intensiven Austausch trifft.
       
       Silke Helfrich arbeitete immer fragend, forschend und äußerst akribisch.
       Das erste von ihr im Transkript-Verlag 2012 herausgegebene Buch „Commons –
       Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat“ mit Dutzenden von
       Autor:innen aus aller Welt ist eine editorische Meisterleistung und
       kommt auf über 500 Seiten völlig ohne Dopplungen aus.
       
       In den Nachfolgewerken mit Michael Bauwens und David Bollier, mit denen sie
       die [5][„Commons Strategies Group“] gründete, entwickelte sie Muster
       gemeinsamen Handelns und zeigte auf, dass die Welt der Commons schon an
       vielen Stellen gelebt wird und nach völlig anderer Logik funktioniert als
       der Kapitalismus. Mit ihrer ganzen Kraft und Lebensenergie wollte sie dazu
       beitragen, dass sich die Welt der Commons vergrößert und alle davon
       erfahren können. Die Bücher sind als Open Source im Internet erschienen und
       stehen so allen Lesenden kostenlos zur Verfügung. Zugleich wurden sie zu
       den Bestsellern des Transcript-Verlages.
       
       Die Mutter zweier erwachsener Kinder mutete sich selbst extrem viel zu,
       Pausen gönnte sie sich selten. Und immer war sie offen für neue
       intellektuelle und praktische Herausforderungen. Gerade war sie dabei,
       zusammen mit Jurist:innen der Uni Würzburg der Frage nachzugehen, wie
       Commons Public Partnerships aussehen könnten.
       
       Noch am Abend vor ihrem Tod schaltete sie sich per Video zu einem Seminar
       dazu, nachdem sie in ihrem Hotel in Liechtenstein eine Ecke gefunden hatte,
       wo das Internet funktionierte; am nächsten Tag war sie in der Nähe mit
       einer Aktivistin verabredet. Sie sei voller Energie und werde deshalb noch
       ein bisschen wandern, verabschiedete sie sich am Morgen von den Gastwirten.
       Das passte zu ihr: immer neugierig unbekanntes Terrain erforschen. Dabei
       kam sie tragisch ums Leben.
       
       17 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR [5] https://commonsstrategies.org/
       
       ## AUTOREN
       
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