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       # taz.de -- Therapeut über Missbrauch in der Kirche: „Es ist alles bähbäh“
       
       > Der Osnabrücker Psycho- und Sexualtherapeut Wolfgang Weig hat an einer
       > Studie mitgearbeitet, nach der nur ein Drittel der Priester kein Problem
       > mit dem Zölibat hat.
       
   IMG Bild: Missbrauch in der katholischen Kirche war Thema beim Treffen der Bischöfe in Lingen.
       
       taz: Herr Weig, für Ihre Seelsorge-Studie wurden über 8.500 Hauptamtliche
       in der katholischen Kirche befragt – auch zum Thema Sexualität. Was ist
       dabei herausgekommen? 
       
       Wolfgang Weig: Dafür ist es erst einmal wichtig, von den „zwei Geistern“
       der Sexualmoral zu reden. Sexualität ist gut und wichtig, soweit sie die
       Autonomie der Beteiligten schützt und sie auf Augenhöhe bringt und beide
       Partner genießend und handelnd sein lässt. Wenn die Kirche aber jede
       Sexualität außerhalb der Ehe und außerhalb des Zeugungswunsches mehr oder
       weniger verdammt oder zumindest für nicht in Ordnung hält, entsteht eine
       Schieflage, weil es dann am Ende egal ist, ob eine liebevolle Begegnung
       zwischen zwei Menschen stattfindet oder so etwas geschieht wie eben der
       Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen – es ist alles bähbäh.
       
       Die Sexualmoral in der katholischen Kirche sagt also: Es ist ohnehin alles
       schlecht, was mit Sex zu tun hat? 
       
       So habe ich das im Religionsunterricht vor rund 50 Jahren noch gelernt: Was
       unterhalb des Nabels ist, das ist ganz verdächtig. Was genau Unkeuschheit
       bedeutet, wusste eigentlich niemand so genau, aber Unkeuschheit war so
       ziemlich das Schlimmste. Das war lange Zeit die Lehre der Kirche.
       
       Sie reden in der Vergangenheit. Hat sich das denn geändert? 
       
       Ja, zumindest im Umgang vieler aufgeschlossener Seelsorger mit dem Thema,
       in offiziellen Verlautbarungen aufgeschlossener Moraltheologen ebenfalls.
       Es gibt lebendige Fakultäten, wo offen über diese Themen geredet wird.
       Bischof Bode und die anderen Mitglieder der Osnabrücker Bistumsleitung
       haben auch nicht mehr so eine verkorkste Auffassung; mit ihnen kann ich
       offen darüber reden. Aber es gibt die anderen, das sind sowohl sogenannte
       Laien als auch manche Bischöfe oder Teile der vatikanischen Kreise in Rom.
       
       Welche Sexualmoral bräuchte es in der katholischen Kirche? 
       
       Eine positive, die sagt: Sexualität ist ein Gottesgeschenk unter der
       Voraussetzung, dass bestimmte Regeln eingehalten werden wie die Wahrung der
       Autonomie, der Menschenwürde, natürlich auch des Prinzips der
       Schadensabwehr, das in der Sexualität stattfindet – das wäre eine positive
       Sexualmoral. Was zwei Menschen unter diesen Bedingungen miteinander tun,
       ist moralisch gut. Und geht keinen anderen was an.
       
       Und wie könnte eine solche Auffassung mit dem Zölibat zusammenpassen? 
       
       Schwierig. Die Zölibatsverpflichtung wirkt sich auf den Umgang des
       Priesters mit seinen Gemeindemitgliedern oder auf seine Beurteilung anderer
       aus, zumindest wird der Umgang dadurch erschwert. Denn er weiß ja, dass für
       sie etwas anderes gilt als für ihn selbst.
       
       Würden Sie sagen, dass der Zölibat etwas mit dem sexuellen Missbrauch in
       der katholischen Kirche zu tun hat? 
       
       Für einen unmittelbaren Zusammenhang gibt es keinen Beleg. Es gibt ja auch
       zölibatär lebende Priester, sicher ist das sogar die Mehrheit, bei denen
       keinerlei Risiko für Missbrauch vorliegt. Aber es gibt meiner Meinung nach
       einen mittelbaren Zusammenhang. Einmal, weil diejenigen, die Probleme
       haben, das nennt sich im Kirchendeutsch immer so schön „unreife
       Sexualität“, also mit dem Thema Sexualität für sich nicht so klargekommen
       sind und für sich den Weg nicht gefunden haben, nach meinem Eindruck doch
       vermehrt Priester geworden sind. An die Stelle ihrer Unreife treten dann
       zum Beispiel Übergriffe auf Kinder – obwohl sie eigentlich nicht pädophil
       sind. Aufgrund des eigenen Reifezustandes wäre es ihnen aber gar nicht
       möglich, an einen erwachsenen Partner zu denken. Da kommt auch sehr stark
       das Thema Homosexualität mit hinein, was ja auch ganz tabuisiert ist in der
       Kirche und völlig abgewehrt wird. Dabei ist ein nicht eben kleiner Teil
       derjenigen, die sich für das Priesteramt entscheiden, homosexuell.
       
       Ist der Zölibat für Homosexuelle eine Art Flucht vor einer vermeintlichen
       Schuld, die man als Katholik ja nahezu zwangsläufig empfinden muss? 
       
       Schuld spielt da sicher mit rein, aber was wir von betroffenen Priestern
       auch gehört haben ist, dass der Zölibat vor allem auch ein Schutz gegenüber
       den Anforderungen der Öffentlichkeit ist. Das spielt bei den Älteren
       bestimmt noch eine größere Rolle, aber in manchen konservativen Umfeldern
       ist das auch heute noch so. Wenn ein junger Mann merkt, dass er homosexuell
       ist und seine Familie das vielleicht auch noch mitbekommt, entsteht viel
       Scham und Unsicherheit und dann ist es eine ganz gute Möglichkeit, Priester
       zu werden. Dann fragt einen keiner, wieso man eigentlich nicht verheiratet
       ist oder keine Freundin hat.
       
       Geht es dabei auch um eine Möglichkeit, die Homosexualität auszuleben? 
       
       Die einen versuchen, zölibatär zu leben und schaffen das entweder, genauso
       wie manche heterosexuelle Zölibatäre, oder sie schaffen es auf die Dauer
       eben nicht. Und andere gehen mehr oder weniger bewusst von vornherein mit
       dem Gedanken da heran, dass sie in einem Umfeld sind, wo ja auch andere
       homosexuelle Mitbrüder sind und es sich ganz gut einrichten lässt. Und wenn
       das so funktionieren würde, dass sie einen Partner finden und heimlich ihre
       Sexualität ausleben könnten und der Partner wäre ebenbürtig und das Ganze
       einvernehmlich, dann wäre das aus meiner Sicht auch kein Problem. Das alles
       kann aber ja gar nicht thematisiert werden, weil das Thema ja doppelt
       tabuisiert ist: Homosexualität ist tabuisiert und sexuelle Beziehungen von
       Priestern sind tabuisiert. Und da ist dann in einzelnen Fällen bestimmt der
       bereits erwähnte mittelbare Zusammenhang zum Missbrauch, denn anders als in
       anderen Institutionen richten sich die Missbräuche in der katholischen
       Kirche ja überwiegend an Jungen.
       
       Stimmt es, dass es unterschiedliche Auslegungen des Begriffs „Zölibat“
       gibt? 
       
       Ich habe von Priestern verschiedene moraltheologische Auslegungen gehört,
       nach denen zum Beispiel „alles unterhalb der Schwelle des Koitus“ erlaubt
       ist. Dass Selbstbefriedigung erlaubt ist, ist mittlerweile eigentlich
       Konsens – und die radikalste Auffassung ist, dass ja eigentlich nur die Ehe
       verboten ist. Aber offizielle Meinung ist das natürlich nicht. Die sagt
       ganz klar: Priester dürfen nicht heiraten und nur Verheiratete dürfen
       miteinander Sex haben.
       
       Wie viele der von Ihnen befragten Priester haben gesagt, sie kämen gut
       zurecht mit dem Zölibat? 
       
       Ungefähr ein Drittel. Das sind entweder Idealisten, die sich dem Zölibat
       ganz verschrieben haben zur höheren Ehre Gottes, oder aber solche, die
       einfach kein großes Interesse an Sexualität haben. So etwas gibt’s ja auch.
       Das ist zwar ein geringer Prozentsatz der Menschen, aber ein durchaus
       vorhandener. Das mit dem Sex hat ja mindestens drei Komponenten: Die eine
       ist, dass es einfach Spaß macht. Die zweite wäre der Aspekt, Kinder zu
       haben, und die dritte ist meiner Meinung nach die interessanteste, nämlich
       Beziehung und Liebe, dass ich mich also auf einen anderen Menschen mit Haut
       und Haaren und Leib und Seele einlasse und da eine Art ganzheitliche
       Begegnung entsteht. Darauf verzichtet man im Zölibat in jedem Fall – das
       ist sozusagen der Kern der Zölibatsverpflichtung und meiner Meinung nach
       der problematischste.
       
       Aber auch damit kommt dieses Drittel gut zurecht? 
       
       Ja, einigermaßen. Wir haben in der Studie gesehen, dass jene Männer mit
       „schlechten“ oder nicht ausgereiften „Beziehungsstilen“ unter den Priestern
       deutlich überrepräsentiert waren gegenüber der Bevölkerung. Ich habe mich
       mit einem Priester unterhalten, der mir sagte: „Ich bin eigentlich nicht
       beziehungsfähig. Wenn ich geheiratet hätte, wäre ich wahrscheinlich schon
       das dritte Mal geschieden. Da bin ich lieber Priester geworden.“ Eigene
       Schwächen oder Unzulänglichkeiten oder nicht vorhandene Bedürfnisse zu
       kompensieren, indem man an eine Stelle geht, wo die gar nicht gefragt sind,
       kann auch durchaus konstruktiv sein. Aber dann gibt es halt auch andere,
       die sich da durchschlängeln und sich das Ganze so zurecht drehen, wie es
       ihnen passt. Aber das ist natürlich Doppelmoral.
       
       Sind die hierarchischen Hürden in der katholischen Kirche dafür
       verantwortlich, dass der mehrheitliche Rest der Priester schweigt? 
       
       Neben Existenzängsten bestimmt auch, denn die katholische Kirche ist in der
       Tat sehr hierarchisch, sie ist eine verschwiegene Gemeinschaft im Sinne der
       omerta und des forum internum – man redet über gewisse Dinge nur in
       bestimmten inneren Kreisen. Das ist sehr ambivalent, denn einerseits kommt
       dabei eine große Geschlossenheit heraus, aber die Kehrseite ist natürlich,
       dass offene Diskussionen nur vereinzelt stattfinden.
       
       Was ist mit dem Aspekt Macht? 
       
       Starke hierarchische Strukturen haben immer mit Macht zu tun. Sie sollte
       demokratisch kontrolliert und eingebunden werden, um ihren Schrecken zu
       verlieren. Die kleine Macht, die zum Beispiel ein Priester gegenüber
       Jugendlichen hat, ist meiner Meinung nach allerdings nicht
       kirchenspezifisch. Die hat auch der Übungsleiter im Sportverein oder der
       Lehrer in der Schule oder auch der Arzt oder Psychotherapeut – sie ist
       wahrscheinlich inhärent in solchen Strukturen.
       
       Gibt es bereits Debatten über das, was Bischof Bode „systemische Probleme“
       nannte? 
       
       Ja durchaus, unter einzelnen Priestern und noch mehr engagierten
       katholischen Laien. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat sich
       eindeutig positioniert und bezogen auf die Zulassung von Frauen auch die
       Konferenz der Ordensoberinnen. Nicht nur der Zölibat ist ja problematisch,
       sondern auch die Rolle der Frau in der katholischen Kirche.
       
       Was muss sich ändern? 
       
       Es muss, wie gesagt, eine Demokratisierung der Strukturen stattfinden,
       beispielsweise analog zu den synodalen Verhältnissen in der evangelischen
       Kirche. Und es muss das Fundamentale angegangen werden. Sexualmoral ist
       hier sicher nur ein Stichwort, aber es geht ja tatsächlich um die Frage:
       Wie gehen wir mit Sexualität und mit Geschlechterverhältnis in der
       katholischen Kirche grundsätzlich um? Das ist meines Erachtens neben dem
       strukturellen der wichtigste inhaltliche Punkt.
       
       17 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schnase
       
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