URI: 
       # taz.de -- Thilo Sarrazin in Neukölln: Menscheln mit dem Mahner
       
       > Was passiert, wenn Thilo Sarrazin auf eine Selbsthilfegruppe türkischer
       > Männer trifft? Der Verein "Aufbruch Neukölln" hat es ausprobiert.
       
   IMG Bild: Redet seit einem Jahr über den Untergang des Vaterlandes: Thilo Sarrazin.
       
       BERLIN taz | Er ist ein Mann, der sagt, er habe nichts gegen Muslime, er
       finde sie nur meist dumm. Ein linkischer Typ und Sozialdemokrat, der
       ausspricht, was sich sonst angeblich keiner zu sagen traut: dass sich
       Deutschland abschafft und Muslime Europa unterwandern.
       
       "Ich habe nie jemanden beleidigt", sagt Thilo Sarrazin, verschränkt die
       Arme und und nippt an seinem türkischen Tee. Um ihn herum sitzen Männer und
       Frauen, die meisten von ihnen Muslime. Es ist schwierig, einem Mann diese
       Worte abzukaufen, der davon ausgeht, dass ganze Volksgruppen aufgrund ihrer
       Gene weniger intelligent sind.
       
       Es ist Montagabend in Berlin-Neukölln. Sarrazin sitzt in einem kleinen,
       hellen und schmucklosen Erdgeschoss des Vereins "Aufbruch Neukölln".
       Deutschlands erste Selbsthilfegruppe für türkische Männer und deren Leiter,
       Kazim Erdogan, 57, haben den "Integrationsexperten" eingeladen.
       
       Die etwa 40 Männer und zehn Frauen wollen mit dem Ex-Bundesbanker
       diskutieren, der seit einem Jahr nicht wohlwollend über sie spricht. Sie
       wollen ihm schildern, wie sie sich seit dem Erscheinen seines Buches
       fühlen.
       
       Aber welchen Sinn soll dieses Treffen haben, bei dem ein Mann auf eine
       Gruppe von Menschen trifft, die er pauschal verurteilt? " Es ist die
       einzige Art, ihn zu entwaffnen", glaubt der Psychologe Erdogan.
       
       Er hat das Gefühl, dass sein Gast über Integration redet, ohne Ausländer
       und ihre Probleme wirklich zu kennen. Erdogan findet, Menschen wie Sarrazin
       sollten mehr mit Leuten sprechen, die über diese Dinge Bescheid wissen,
       oder mit den Betroffenen direkt.
       
       ## Sarazzin in Kreuzberg
       
       Und irgendwie liegt es auch nahe, dass Sarrazin die Objekte seines Spotts
       trifft. Die Menschen, die er regelmäßig kritisiert und denen er Ratschläge
       erteilt.
       
       Sein letzter Versuch, mit Migranten in Kontakt zu treten, war eher
       kläglich. Sein Marsch mit einem Kamerateam durch Berlin-Kreuzberg endete in
       wilden Wortgefechten und "Sarrazin muss weg!"-Rufen.
       
       Heute Abend soll es anders ablaufen. Keine Kameras, kein Krawall, ein
       sachlich-diplomatischer Austausch soll es werden. Nur Fußgänger schauen ab
       und an durch die Fensterfront. Erdogan wirkt so buddhistisch gelassen, als
       wäre er gerade vom Yoga-Kurs zurück.
       
       Er ist ein Mann, der eher appelliert als anklagt und immer höflich bleibt.
       Er stellt sich vor die Gruppe, hält eine kurze Rede auf Türkisch: "Egal,
       was er heute Abend sagt, egal, wie sehr er uns aufregt, er ist unser Gast",
       sagt Erdogan. "Jeder Mensch hat das Recht auf Respekt." Sie halten sogar
       einen Parkplatz für ihn vor der Haustür frei.
       
       ## Einladung ist nicht angekommen
       
       Sarrazin kommt zehn Minuten zu spät, er sieht entspannt aus, etwas
       gebräunt, als sei er eben aus dem Urlaub zurück. Er setzt sich, legt seine
       Arme auf den Tisch.
       
       Jetzt ist er also da. Schon vor einem Jahr hatte die Männergruppe Sarrazin
       eingeladen. Er habe die Einladung nie erhalten, sagt er.
       
       "Herr Sarrazin, wir wollen hier über das Menschliche reden", begrüßt ihn
       Erdogan. "Darüber, wir wir uns fühlen."
       
       Sarrazin nickt, hat seine Hände unter die Achseln geklemmt. "Ich freue
       mich, dass ich willkommen bin", fängt er dann auch schon an und redet erst
       mal über sein Buch. Den Namen von Erdogan spricht er den ganzen Abend
       falsch aus, wie alle anderen ausländischen Namen.
       
       Dann ist er schon nach wenigen Minuten bei seinen Statistiken, betont, er
       habe sich für Einzelfälle interessiert, er gestikuliert viel, rückt immer
       wieder seine Brille zurecht.
       
       ## Ein erfolgreicher Buchautor
       
       Aus der Sicht von Sarrazin, 66, liefen die vergangenen Monate nicht übel,
       er hat sehr viel Geld mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab"
       verdient und das Land verändert.
       
       Aus der Sicht der anderen hier waren die letzten zwölf Monate eine
       Katastrophe. Sie fühlen sich diskriminiert.
       
       So treffen in diesem Raum zwei Weltanschauungen aufeinander. Die Sicht der
       Migranten, die sich nicht mehr willkommen glauben, und die Sicht Sarrazins,
       der sie in Statistiken packt und wirtschaftlich ausmisst. Irgendwo
       dazwischen liegt die große deutsche Migrationsdebatte.
       
       Sarrazin und Erdogan sitzen gemeinsam an einem Tisch, vor sich die Männer
       und Frauen, dicht zusammengedrängt wie artige, gut vorbereitete Schüler,
       die sich Mühe geben.
       
       "Wovor haben sie Angst?", will Erdogan von Sarrazin wissen.
       
       ## 
       
       ## Keine Angst, aber große Sorgen
       
       "Ich habe vor nix Angst", antwortet der. "Ich habe mir etwas erarbeitet.
       Bevor sich Deutschland abwirtschaftet, liege ich schon unter der Erde. Aber
       wenn ich an mein Volk denke, dann habe ich große Sorgen."
       
       Sarrazin ist schwer zu fassen, er antwortet auf Fragen mit Statistiken. Das
       Sperrige, Unbelebte eines Aktenstapels ist noch im ehemaligen Finanzsenator
       drin. Er dreht und wendet die Worte und Fakten, bis sie für ihn sprechen.
       
       Mit dem Anspruch, gegen die linke Political Correctness anzurennen, umgibt
       er sich mit der Aura des Aufklärers, während er Standpunkte referiert, die
       sich widersprechen. #
       
       ## "Arier" und "Rasse"
       
       Es sind Sätze dabei wie: "Wenn Araber und Türken genauso gut abschneiden
       würden wie Polen und Russen, dann wäre schon viel erreicht." Oder: "Man
       muss mit Stumpf und Stiel dran. So habe ich es in der Wirtschaft gelernt."
       Und: "Wegen der tollen Sozialleistungen kommen die Menschen hierhin." Es
       fallen Worte wie "Arier" und "Rasse".
       
       Es ist geübt darin, sich ständig rechtfertigen zu müssen, man hört das an
       seinen Worten. Sie wiederholen sich immer wieder, es sind immer die
       gleichen Argumente.
       
       Journalisten schrieben über ihn, Autoren befassten sich mit ihm, Politiker
       beschäftigten sich mit ihm, Wissenschaftler nahmen ihn auseinander,
       Menschen demonstrierten für oder gegen ihn.
       
       Noch nie habe irgendwer seine Statistiken widerlegen können, sagt er
       selbstsicher. Den Einwand, eine ganzes Team der Berliner Humboldt-Uni habe
       seine Zahlen auseinandergenommen, wischt er weg.
       
       ## Geselliges Kaffekränzchen
       
       "Dass sind doch keine Wissenschaftler", schimpft er. Es ist der einzige
       Moment, in dem er fast die Haltung verliert. Seine Sätze schwanken kurz
       zwischen Aggressivität und Wut.
       
       Als ein Mann auf Türkisch erklärt, sein Sohn werde seit Erscheinen des
       Buches verstärkt auf dem Gymnasium gemobbt, nickt Sarrazin freundlich. Die
       Stimmung erinnert zeitweise an ein geselliges Kaffeekränzchen, es fehlt nur
       noch der Blechkuchen.
       
       Sarrazin fühlt sich wohl hier, er macht ein Gesicht, als ginge er
       spazieren. Doch es hat sich einiges angesammelt bei den Anwesenden, bei den
       Wortmeldungen sagen viele ihre Meinung und wenige stellen eine Frage.
       
       Bei einer Frau zittern die Lippen, als sie Sarrazin kritisch nach dem Sinn
       seines Buches fragt. Ein Zahnarzt beklagt, dass er keine deutschen
       Mitarbeiter finde. Dennoch sind alle nett zueinander, der Ton wird selten
       laut.
       
       ## Die Etikette wahren
       
       Die Leute hier wollen Sarrazin zeigen, dass man auch mit Migranten auf
       Augenhöhe diskutieren kann. Ihre Bemühungen sind rührend. Als Sarrazin ein
       wenig Wasser auf den Tisch schüttet, tupft ein Mann dieses mit der
       Serviette weg.
       
       Schließlich kann der Gast dann doch nicht mehr der Lust an der Provokation
       widerstehen. Als eine junge Kopftuchträgerin ihn fragt, ob er seine Kritik
       ihr gegenüber fair finde, antwortet er trocken: "Mein Tipp, nehmen Sie das
       Kopftuch ab. Dann spricht Sie auch niemand mehr darauf an." Auf den
       Einwurf, dass Religionsfreiheit herrsche, reagiert er nicht.
       
       Dennoch: Am Ende klatscht das Publikum höflich. Sarrazin bekommt einen
       Blumenstrauß und isst selbstgemachtes Börek, manche Männer wollen ein Foto
       mit ihm. Sarrazin kündigt an, ein zweites Buch schreiben zu wollen. Nur
       über den Inhalt will er nichts sagen.
       
       6 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cigdem Akyol
       
       ## TAGS
       
   DIR Ehrenamt
   DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bundesverdienstkreuz für Kazim Erdogan: „Wunschlos glücklich“
       
       Kazim Erdogan wird für seine ehrenamtliche Arbeit mit dem
       Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er leitet unter anderem die erste
       muslimische Männergruppe.
       
   DIR Merkel fordert mehr Multikulti: Kanzlerin übt Integration
       
       Ein Jahr nach dem Start der Sarrazin-Debatte geht die Kanzlerin deutlich
       auf Distanz zu dessen Thesen. Für sie ist Multikulti nun plötzlich doch
       nicht mehr gescheitert.
       
   DIR Parteispendenpraxis in der SPD: Sarrazin sponsort Buschkowsky
       
       Der Neuköllner SPD-Vorstand akzeptiert mit großer Mehrheit eine
       5.000-Euro-Spende des wegen seiner Thesen zur Migration höchst umstrittenen
       Exsenators.
       
   DIR Rechtspopulist Wilders in Berlin: Sarrazin zieht nicht mehr richtig
       
       Der Kandidat der "Freiheit", René Stadtkewitz, holt den holländischen
       Rechtspopulisten Geert Wilders zur Unterstützung. Die antimuslimische Szene
       feiert, aber die Anfangseuphorie ist verflogen.
       
   DIR 50 Jahre TürkInnen in Deutschland: Trendy, cool und sehr, sehr sexy
       
       Schwarz & Weiß ist in der Schickeria angesagt: Türkisches Nachtleben in
       Berlin orientiert sich an Istanbuls Nightlife. Das lohnt sich!
       
   DIR Chef der "Hürriyet" über Thilo Sarrazin: "Sarrazin ist nicht interessant"
       
       Ahmet Külahci, Chef der "Hürriyet" in Berlin, erklärt, warum sein Blatt den
       umstrittenen Bestsellerautor Thilo Sarrazin kaum beachtet hat.
       
   DIR Wahlkampf in Berlin: Sarrazin-Verbot für pro Deutschland
       
       Erfolg für Thilo Sarrazin: Ein Gericht untersagte der rechtspopulistischen
       "Bürgerbewegung Pro Deutschland, mit dem Namen des Ex-Senators Wahlkampf zu
       machen.
       
   DIR Thilo Sarrazin als Opfer im ZDF: Der Aufstand des Pöbels
       
       Angeblich will das ZDF einen Dialog zwischen Thilo Sarrazin und Berliner
       Migranten zeigen (Freitag, 23.15 Uhr). Doch der Autor inszeniert sich als
       öffentliches Opfer.
       
   DIR Debatte um Sarrazins Kreuzberg-Besuch: Kreuzberg schafft Sarrazin ab
       
       Ein Kamerateam schickt Thilo Sarrazin nach Kreuzberg. Die Kreuzberger
       verweigern die Diskussion - und schon gibt es großes Geschrei über
       angebliche Intoleranz und "No-go-Areas". Was wird hier gespielt? Eine
       Stimmensammlung.