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       # taz.de -- Tiere des Jahres und Artensterben: Schaut her, bitte!
       
       > Die Biodiversitätskrise hält auch nach Corona an. Ein basisdemokratischer
       > Wahlversuch beim Tier des Jahres tappte aber prompt in die
       > Populismusfalle.
       
   IMG Bild: Nicht flauschig oder super hip, aber schon auch goldig: schlüpfende Zauneidechse
       
       Wer wirklich erfolgreich ist, braucht keine Auszeichnungen. Den Titel
       „Virus des Jahres“ für das Coronavirus gibt es entsprechend nicht. In
       weniger klaren Fällen müssen die Fachleute ran. Und so lässt es sich kaum
       eine naturkundliche Vereinigung nehmen, von der [1][Heilpflanze
       (Meerrettich)] bis zur [2][Staude (Schafgarbe)], vom [3][Schmetterling
       (Brauner Bär)] bis zur [4][Wildbiene (Mai-Langhornbiene)], vom [5][Pilz
       (Grünling)] bis zur [6][Spinne (Zweihöcker-Spinnenfresser)] des Jahres
       2021, alle erdenklichen Bestandteile der belebten Natur auszuzeichnen.
       
       In vielen Fällen erfährt das Publikum so nicht nur erstmals vom
       ausgezeichneten Organismus, sondern auch von seinen Bewunderern. Haben Sie
       schon mal vom Höhlen-Raubkäfer gehört oder vom [7][Verband der deutschen
       Höhlen- und Karstforscher (VdHK)]? Von der Gewöhnlichen Mauerflechte oder
       der [8][Bryologisch-lichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa
       (BLAM)]? Vom Kriechenden Netzblatt oder von den [9][Arbeitskreisen
       Heimische Orchideen (AHO)]? Jetzt schon!
       
       Und auch, wenn Sie diese Information bereits zum Dreikönigstag wieder
       vergessen haben werden – ist es nicht beglückend an sich und ein
       beruhigendes Wissen, dass es nicht nur so viele Orchideenfächer gibt,
       sondern auch Orchideengesellschaften und die Orchideen selbst? Der Boom der
       Jahresgeschöpfe geht auf den Deutschen Bund für Vogelschutz (DBV) zurück,
       dem heutigen Nabu. Vor 50 Jahren kam er auf die Idee, den „Vogel des
       Jahres“ auszuzwitschern. Erklärtes Ziel war es, auf die Gefährdung der Art
       und ihrer Lebensräume hinzuweisen. Der erste bundesweite Titelträger war im
       Jahr 1971 der Wanderfalke.
       
       Der ehemals weitverbreitete Hochgeschwindigkeitsjäger hatte zuvor
       dramatische Bestandseinbrüche erlitten. Hauptgrund waren zu dünne
       Eierschalen, verursacht durch den großflächigen Einsatz von DDT. Ein
       Skandal, der zahlreichen Greifvögeln zum Verhängnis wurde und als wichtige
       Initialzündung für die gesamte Umweltbewegung gilt. Tatsächlich stand der
       Wanderfalke damals in Deutschland kurz vor der Ausrottung. Nur rund 50
       Brutpaare waren verblieben.
       
       ## Der „Vogel des Jahres“ rettete den Wanderfalken
       
       Das Verbot von DDT und weitere Naturschutzbemühungen führten zu einem
       deutlichen Populationsanstieg, heute gilt der Wanderfalke nicht mehr als
       gefährdet. Eine Erfolgsstory, an der die „Vogel des Jahres“-Aktion ihren
       Anteil hatte. Kein Wunder also, dass sie fortgeführt wurde und viele
       Nachahmer fand. Der „Vogel des Jahres“ ist bis heute immer noch eine
       „Tagesschau“-Meldung wert. Und auch wenn viele der anderen Auszeichnungen
       die breitere Öffentlichkeit kaum je erreichen, führen sie doch stets zu
       einer erhöhten Aufmerksamkeit für die ernannten Arten.
       
       Zum 50-jährigen Jubiläum hat der Nabu nun wieder Schlagzeilen gemacht –
       erstmals rief er alle Bürger*innen zu einer [10][basisdemokratischen Wahl
       des Glücksvogels] aus dem Kandidatenfeld aller 307 heimischen Brut- und der
       wichtigsten Gastvögel auf. Fast 130.000 Vogelfreund*innen machten mit – und
       prompt gibt es ein Populismusproblem. Denn während sich nur jeweils sechs
       Stimmen für Spornpieper, Rohrschwirl oder Skua erbarmten – wieso bloß hat
       die imposante Skua, diese so edle wie elegante Raubmöwe, keine Freunde? –,
       räumte ausgerechnet die Stadttaube mit 8.937 Stimmen ab und nimmt nun Platz
       1 der Shortlist ein.
       
       ## Die Taube ist ein Trump der Vogelwelt
       
       Dabei handelt es sich bei ihr noch nicht mal um eine ordentliche Art,
       sondern lediglich um die domestizierte, also irgendwie menschgemachte Form
       der Felsentaube. Bedroht ist sie schon gar nicht, viel mehr wetteifern
       Städte darum, das lästige Federvieh zu vergrämen oder auszuhungern, was
       wiederum Tierschützer auf den Plan ruft. Wobei die Taube selbst im
       Wesentlichen durch schlechtes Benehmen auffällt, also eine Art Donald Trump
       der Vogelwelt darstellt, nur, dass sie ihre Wahl halt tatsächlich gewonnen
       hat.
       
       Zumindest die Vorausscheidung, denn die finale Abstimmung unter den zehn
       Alphavögeln startet am 18. Januar, und da werden wir ja sehen, ob sich am
       Ende nicht doch noch die Vernünftigen, also zum Beispiel [11][die
       „Goldregenpfeifer-Ultras“ um Buchpreisträger Saša Stanišić], durchsetzen
       und verhindern, dass die Artenschutzaktion unter Taubenkot versinkt. Im
       März wissen wir mehr.
       
       ## Schutz für Tiger gern, für Otter ungern
       
       Ebenfalls nicht unumstritten ist das Wildtier des Jahres 2021, der
       Fischotter. Ihm geht es, wie allen Beutegreifern, die es wagen, ähnliche
       Nahrungsvorlieben wie der Mensch zu hegen. Denn während sich die Deutschen
       parteiübergreifend einig darin sind, dass die Asiaten gefälligst ihre Tiger
       und die Afrikaner ihre Elefanten zu schützen haben, gerät hier verlässlich
       das halbe Land in Schnappatmung wie ein an Land gezogener Atlantischer
       Hering (Fisch des Jahres), wenn der Wolf sich mal ein Schaf stibitzt, der
       Biber unsere schöne aufgeräumte Landschaft durcheinanderbringt oder eben
       der Fischotter seine namensgebende Lieblingsspeise fängt.
       
       Da bleibt den angeblich so naturliebenden Deutschen schnell eine Gräte im
       Hals stecken, zumal eine der wichtigsten Gefährdungsursachen für den
       Wassermarder der Autoverkehr darstellt, sein Schutz also die Priorisierung
       von Fluss vor Verkehrsfluss verlangte, und da hört der Spaß bekanntlich
       auf. Deshalb aber sagen wir: Recht so, Deutsche Wildtier Stiftung! Support
       für Lutra lutra!
       
       ## Ein unkontroverser Schleimpilz
       
       Weit weniger kontrovers dürfte die [12][Kür des Schleimpilzes Physarum
       polycephalum zum Einzeller des Jahres] sein. Dabei hat die Deutsche
       Gesellschaft für Protozoologie schon so ziemlich das Spektakulärste
       aufgefahren, was sie zu bieten hat, denn das, nun ja: Ding ist eine
       „gigantische Amöbe“, verfügt als solche sogar über eine „makroskopisch
       sichtbare Lebensform“ und steht im Guinnessbuch der Rekorde als größter
       Einzeller der Welt.
       
       Und wenn die Protozoologie-Jury vom „flüssigen, rhythmisch in den Adern hin
       und her strömenden Zellplasma“ schwärmt, von den „als Myxamöben durch die
       Umgebung kriechenden Geschlechtszellen“ sowie der „nahezu unbegrenzten
       Lebenszeit“, dann fragen wir uns schon, warum wir von irgendwelchen
       vogeligen Zeitgenossen mit Stadttauben gelangweilt werden. Wer jedenfalls
       auf der Suche nach einer Art Haustier ist, das länger durchhält als jedes
       Meerschweinchen und trotz beachtlicher Mobilität nicht mit Gassigehen nervt
       – der Schleimpilz lässt sich problemlos mit Haferflocken züchten!
       
       ## Zweite Chance für die gebeutelte Zauneidechse
       
       Doch Aufmerksamkeit ist kurzlebig wie eine [13][Dänische Eintagsfliege
       (Insekt des Jahres)] und der Weg zum Erfolg dornig wie eine [14][Stechpalme
       (Baum des Jahres)]. Am Ende kommen wir daher doch wieder auf das Virus des
       Jahres zurück. Mit seiner Omnipräsenz hat es praktisch alle anderen
       Nachrichten verdrängt. Die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und
       Terrarienkunde (DGHT) zieht daraus nun Konsequenzen und erklärt die
       Zauneidechse einfach [15][zum Titelverteidiger beim „Reptil des Jahres“].
       
       Die einstmals häufige und durch Lebensraumzerstörung, industrielle
       Landwirtschaft und freilaufende Katzen arg gebeutelte Eidechse hat damit
       nun „eine zweite Chance, um nach dem verlorenen Coronajahr erneut in den
       Fokus zu rücken“. Mit der Auszeichnung verbunden ist nämlich auch eine hoch
       angesehene Fachtagung, die 2020 aufgrund der Coronamaßnahmen ausfiel. Und
       dabei, wir sind sicher, gäbe es doch so viel zu berichten über das kleine
       Reptil. Also: Mach’s noch einmal, Zauneidechse! Auf ein besseres neues Jahr
       2021, in dem der Blick dann hoffentlich wieder auf die Biodiversitätskrise
       gelenkt wird, die auch dann noch eine globale Bedrohung sein wird, wenn
       Corona längst in den Annalen verschwunden ist.
       
       5 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ptaheute.de/news/artikel/arzneipflanze-und-heilpflanze-des-jahres-2021/
   DIR [2] https://www.olerum.de/stauden/schafgarbe-staude-des-jahres
   DIR [3] https://www.bund.net/themen/tiere-pflanzen/schmetterlinge/schmetterling-des-jahres/
   DIR [4] https://www.deutschland-summt.de/wildbiene-des-jahres.html
   DIR [5] https://www.nabu.de/news/2020/10/28836.html
   DIR [6] https://www.tierchenwelt.de/news/3525-spinne-des-jahres-2021-der-zweihoecker-spinnenfresser.html
   DIR [7] https://www.vdhk.de/
   DIR [8] https://blam-bl.de/
   DIR [9] https://www.orchideen-deutschlands.de/
   DIR [10] https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/aktionen-und-projekte/vogel-des-jahres/wahl-2021/29108.html
   DIR [11] https://twitter.com/sasa_s/status/1315738813487099906?lang=de
   DIR [12] https://www.tierchenwelt.de/news/3464-einzeller-des-jahres-2021-der-schleimpilz.html
   DIR [13] https://www.mdr.de/wissen/umwelt/insekt-des-jahres-zwanzigeinundzwanzig-daenische-eintagsfliege-100.html
   DIR [14] https://www.lwf.bayern.de/stechpalme
   DIR [15] https://www.dght.de/news/die-zauneidechse-reptil-des-jahres-2020-21
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heiko Werning
       
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