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       # taz.de -- Till Lindemanns Lyrik: Wenn der Teutone Ekelhaftes dichtet
       
       > Ein Gewaltporno zu viel: Rammstein-Sänger Till Lindemann hat Ärger wegen
       > Schauerlyrik. Sein Verleger Helge Malchow hat ihn verteidigt.
       
   IMG Bild: Rammstein-Frontmann Till Lindemann
       
       Hält man es für eine gute Idee, ein Gedicht zu veröffentlichen, in dem sich
       „Wer weiß, wie lang die Liebe hält“ auf „Ich liebe dich, du liebst mein
       Geld“ reimt, ist man entweder 16 Jahre alt – oder Sänger der
       erfolgreichsten deutschen Rockband, dem offenbar jedes Korrektiv fehlt.
       
       Till Lindemann von Rammstein hat kürzlich den Lyrikband [1][„100 Gedichte“]
       beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch publiziert, seinen zweiten nach „In
       stillen Nächten“ (2013). Mit Corona-bedingter Verzögerung gibt es nun eine
       Debatte über sein Gedicht „Wenn du schläfst“. Es handelt davon, eine Frau
       mit Rohypnol zu betäuben, zu vergewaltigen und dabei selbstzufrieden
       festzustellen: „Genau so soll das sein.“
       
       Helge Malchow, KiWi-Programmleiter, reagierte auf die
       Social-Media-Erregungskurve erwartbar professionell. „Die moralische
       Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des
       fiktionalen Sprechers, dem sogenannten,lyrischen Ich', mit dem Autor Till
       Lindemann“, schrieb er. Im Grundkurs Literatur gäbe es dafür eine Eins.
       
       Till Lindemann hat sich bisher nichts zuschulden kommen lassen, er ist
       nicht als Sexualstraftäter aufgefallen, sondern als Künstler. Ein Künstler,
       der seit fast drei Jahrzehnten dasselbe Lied in gleichbleibend hoher
       Lautstärke krakeelt.
       
       ## Megalomanische Horrorshow
       
       Mit seiner Band Rammstein bringt der Berliner teutonische Befindlichkeiten,
       von Komplex bis Fetisch, als megalomanische Horrorshow auf die Bühne. Der
       grrrollende Vorturner im Stechschritt drängt seine Fans zur Identifikation
       mit dem Verwerflichen, um es gemeinsam überwinden zu können. So zumindest
       die Theorie. Die slowenische Band Laibach erprobt die Aneignung von
       faschistischer Ästhetik seit den 80ern, Rammstein haben deren Prinzip
       stadiontauglich gemacht. Die Debatte darüber, wie und ob das aufgeht, ist
       ein alter Hut.
       
       Umso interessanter, dass die Vergewaltigungsfantasie in Gedichtform nun
       eine Diskussion lostritt, während ein Song über mutmaßlichen
       Kindesmissbrauch – Rammsteins „Hallomann“ (2019) – bisher niemand schockte.
       Im Gegenteil: Von Publikum und Presse wurde die Provokation fast unisono
       durchgewunken. Von manchen, weil sie Rammstein über alle Zweifel erhaben
       sehen, von anderen, weil sie die Band und ihre immergleiche Schocknummer so
       gefährlich finden wie den Onkel, der auf Familienfesten nach dem fünften
       Schnaps Zoten erzählt. Der Tenor: Rammstein halt.
       
       Zwischen Buchdeckeln entfalten überhitzte Allmachtsfantasien offenbar
       größere Sprengkraft, was uns vielleicht lehrt, dass die Grenzen zwischen U-
       und E-Kultur doch nicht so durchlässig sind wie gedacht. Vor allem zeigt
       der Gedichband, dass Lindemanns künstlerische Strategie nicht aufgeht, wenn
       der Gitarren- und Pyrodonner wegfällt.
       
       Erst das volle Überwältigungsprogramm, erst die raumgreifende
       Körperlichkeit des Entertainers Lindemann stellt seine Gewaltfantasien als
       Überzeichnung aus. Natürlich ist auch das Gedicht „Wenn du schläfst“ Kunst
       – aber keine, die viel mehr leistet als ein Gewaltporno.
       
       ## Bizarr bis pubertär
       
       Überhaupt ist die Lyrik in ihrer schauerromantischen Antiquiertheit bizarr
       bis pubertär: Lindemann denkt darüber nach, seine Liebste aufzuessen, wird
       aber traurig beim Gedanken daran, dass sie dann fehlt. Solcher libidinöse
       Unsinn hatte auf seinem Soloalbum „F & M“ (2019) noch einen gewissen
       Schmunzelfaktor – der überdrehten Inszenierung sei Dank. In Gedichtform
       würde das Ganze niemand interessieren, wäre der Autor nicht das
       Gesamtkunstwerk Lindemann.
       
       So aber unterstützen ihn einflussreiche Journalisten wie SZ-Redakteur
       Alexander Gorkow, Herausgeber des Gedichtbandes, der Lindemann seit einer
       gemeinsamen Reportagereise als Lyriker fördert. Der Kritik, das
       Lindemann-Gedicht verherrliche sexualisierte Gewalt, werden die Fans wieder
       kopfschüttelnd begegnen – mit größtem Bedauern für alle Moralsusen, die
       nicht verstehen, was Literarisierung bedeutet.
       
       Vielmehr ist es, wie Verlegerin Christiane Frohmann twitterte: Soll eine
       Stimme als lyrisches Ich wahrgenommen werden, müsse man ästhetisch was auf
       die Beine stellen. „Rotzt man einfach schematische Provokation hin, sieht
       es halt wie prosaische Gewalt aus.“
       
       6 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.kiwi-verlag.de/buch/till-lindemann-100-gedichte-9783462053326
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Lorenz
       
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