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       # taz.de -- Tod eines Fischhändlers in Marokko: Vom System zerquetscht
       
       > Mouhcine Fikri starb in einer Müllpresse, aus der er seine Ware retten
       > wollte. Er wurde zum Symbol neuer Proteste gegen die Regierenden.
       
   IMG Bild: Die Proteste sind wieder erwacht
       
       Am Freitag vor drei Wochen passiert im Norden Marokkos, in der Küstenstadt
       al-Hoceïma, etwas Schreckliches, etwas Grauenvolles. Ein Mann, Mouhcine
       Fikri, der auf einem Markt Fische verkauft, stürzt sich in den Kipplader
       eines Müllwagens, um seine Ware wiederzubekommen. Die Polizei hatte dort
       seine Schwertfische hineingeworfen, um ihn von seiner „illegalen“ Arbeit
       abzuhalten, vom Fischverkauf, der seinen Lebensunterhalt sichert, der ihn
       überleben lässt.
       
       Mit diesem Akt der Verzweiflung, des Widerstands, hofft der Mann, seine
       Fische und seinen Tag retten zu können, ein bisschen Geld zu verdienen. Er
       hat keine Angst vor der Polizei, die ihm immer wieder gesagt hat, dass in
       dieser Jahreszeit kein Schwertfisch verkauft werden darf. Sicher denkt er,
       dass die Polizei eher dazu da ist, armen Bürgern wie ihm das Leben schwer
       zu machen, als ihnen in ihrem täglichen Kampf beizustehen. Nein, er hat
       wirklich keine Angst. Er kann es sich nicht erlauben, einen ganzen
       Arbeitstag zu verlieren. Er springt in den Kipper. Um ihn herum sind viele
       Menschen, viele Zeugen. Sie sind an dieser Tragödie beteiligt. Einer
       wahrhaft marokkanischen Tragödie. Sie versuchen ihm zu helfen, sie rufen
       laut, sehr laut. Aber das reicht nicht. Zu spät. Alles ist schnell
       passiert.
       
       Die Presse des Müllwagens bewegt sich. Erbarmungslos wie das System lässt
       sie Mouhcine Fikri keine Chance. Sie tötet ihn. Sie zerteilt ihn. Sie
       zerquetscht ihn. Wortwörtlich: Sie zerquetscht ihn unter den erschrockenen
       Blicken der anderen Verkäufer. Sie filmen die Szene mit Smartphones.
       
       Dank des Internets verbreitet sich diese Szene schnell in Marokko. Mouhcine
       Fikri wird in nur wenigen Stunden zum Symbol. Viele Marokkaner sind
       ergriffen, einige weinen. Viele ziehen eine Verbindung zwischen sich und
       dem Fischverkäufer. Seine Tragödie ist auch ihre. Das ist sicher. Sie
       müssen ihre Solidarität ausdrücken. Sie manifestieren. Sie in die Straßen
       hinausrufen. Sich gegenseitig wachrütteln. Gerechtigkeit zurückfordern.
       Ihre Würde. Den sozialen Wandel, endlich. Mit dem Finger auf das schuldige
       System zeigen, das dieses Mal selbst die Grenzen seiner eigenen Logik
       überschritten hat.
       
       ## Zerquetscht sein
       
       Sehr häufig hört man in Marokko zwei Ausdrücke für diese Ohnmacht, den
       Überdruss, die Wut: „ana mathoun“ (ich bin zerquetscht) und „tahouni“ (sie
       haben mich zerquetscht). Mit der Tragödie von Mouhcine Fikri wird diese
       Metapher, dieses Bild zur Realität. Von einem Horror zum anderen. Von der
       Resignation zur Empörung.
       
       Dieser Kontext und dieses Wort („than“: zerquetschen) erklären auch die
       gigantischen Emotionen, die die Menschen in Marokko durchströmen. Die Wut
       ist viel größer als zuvor.
       
       Seit vorletztem Samstag haben Menschen in verschiedenen Städten fast
       täglich protestiert. Die Slogans, die während des Arabischen Frühlings zu
       hören waren, sind zurück gekehrt. Auch die mutigen Aktivisten vom 20.
       Februar sind zurück. Und durch dieses Symbol Mouhcine Fikri bekommt man den
       Eindruck, man befinde sich in einem Prozess. Was hat die marokkanische
       Regierung seit 2011 für seine hilfsbedürftigen Bürger getan? Wo wurden die
       sozialen Veränderungen umgesetzt, die versprochen worden sind?
       
       In Marokko macht das Volk den Mächtigen Angst. Und sie tun alles, um dessen
       Wut zu ersticken. Man verschleiert die Realität. Man lenkt die
       Aufmerksamkeit in andere Bahnen. Man versenkt sie in viel zu einfachen,
       symbolischen Gesten, die keine Probleme lösen. Man erinnert die Bürger an
       ihre glorreiche historische Vergangenheit. Oder man beschuldigt sie, die
       marokkanische Monarchie stürzen zu wollen, obwohl sie doch nur um
       Gerechtigkeit, Würde und eine Verbesserung ihrer Lebensumstände bitten. Man
       denkt weiterhin, dass diese Menschen gefährlich sind, unfähig, wirklich zu
       begreifen, was vor sich geht. Man denkt, man müsste ihnen nur ein paar
       sinnentleerte Worte hinwerfen und für einen Moment mit ihnen spielen, um
       die Spannungen zu entschärfen und schnell, schnell das Kapitel
       abzuschließen. Schnell, schnell den Namen zu vergessen, diesen explosiven
       Slogan, den ganzen Fall Mouhcine Fikri, der an die Selbstverbrennung des
       tunesischen Gemüseverkäufers Mohamed Bouazizis 2010 erinnert, mit der der
       Arabische Frühling begann.
       
       Natürlich hat sich in den letzten Jahren vieles in Marokko verändert. Seien
       wir objektiv: Wir müssen es anerkennen. Es wurden Straßen gebaut, Häfen,
       das Bruttoinlandsprodukt steigt, und es gab Momente einer freien Presse.
       
       ## Das Leben wurde härter
       
       Aber im Lauf der Jahre setzte sich wieder ein System der Affären durch, des
       Business, in dem man sich eingerichtet hat. Das kam einigen zugute. Aber
       eben nur einigen Wenigen. Das Leben wurde immer teurer. Härter. Die
       staatliche Hochschule ging in Konkurs. Die Reichen sind noch reicher
       geworden. Die kleinen Leute wurden abgehängt, man hat sie vergessen,
       ignoriert. Sie wurden unsichtbar. Auf jeden Fall gehen sie nicht in die
       Malls, die überall gebaut wurden. Sie existieren nicht. Was wird aus ihnen?
       Wo können sie überleben? Wohl nur neben den Müllwagen.
       
       Der Tod Mouhcine Fikris brachte das Wort „hogra“ zurück auf die Lippen der
       Menschen. Es bedeutet: die Verachtung der Eliten für das überlebende Volk,
       die Blindheit der Autoritäten, die Arroganz der oberen
       Gesellschaftsschichten und die Diskrepanz zum Alltag der übrigen
       Marokkaner.
       
       Etwas läuft in Marokko falsch. Es ist nicht notwendig, den Marokkanern aufs
       Neue Angst zu machen mit Verweisen auf Syrien und Libyen. Nein, es ist
       möglich, den Menschen zuzuhören und ihr Schicksal zu verbessern, ohne dass
       im Land ein Krieg ausbrechen wird. Die Bevölkerung verdient dieses Chaos
       nicht. Was sie braucht, sind ein aufmerksames Ohr, ein Blick, der sie
       wahrnimmt, eine Veränderung und eine gerechte Verteilung des Vermögens.
       
       Wer diesen Menschen misstraut, irrt. Man hat tausendmal Unrecht, sie
       weiterhin zu verdummen. Der Arabische Frühling hat sie in jeder Hinsicht
       wachgerüttelt und weit mehr als das. Anstatt ihnen noch einmal den Rücken
       zuzuwenden, statt weiter die fantastische Arbeit der Zivilgesellschaft zu
       ignorieren, die versucht, die Mentalität und die Gesetze zu ändern, muss es
       einen Dialog geben, eine wahrhafte Veränderung. Bevor es zu spät ist. Die
       marokkanische Bevölkerung soll das bekommen, was sie verdient. So einfach
       ist das.
       
       Marokko gehört allen Marokkanern. Möge die Seele von Mouhcine Fikri in
       Frieden ruhen. Salem.
       
       Aus dem Französischen übersetzt von Judith Freese
       
       11 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Abdellah Taïa
       
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