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       # taz.de -- „Tomboy“-Regisseurin: „Die Kindheit ist heute kürzer“
       
       > Céline Sciamma über Geschlechtertrennung, das Casting von Kindern, das
       > Drehen als Spiel und die Arbeit mit einer Fotokamera für ihren Spielfilm
       > „Tomboy“.
       
   IMG Bild: Unbeschwerter Sommerspaß mit Knetpimmel in der Hose: Szene aus „Tomboy“.
       
       taz: Frau Sciamma, vor ein paar Jahren war ich in der Spielzeugabteilung
       eines Einkaufszentrums in der französischen Kleinstadt Annecy. Die eine
       Hälfte der Abteilung bestand aus graublau, die andere aus rosarot
       bestückten Regalen. Wie erklären Sie sich diese radikale Trennung? 
       
       Céline Sciamma: Die Trennung verschärft sich sogar noch, und das liegt
       maßgeblich daran, dass die Kinder heute als Kunden betrachtet werden. Das
       führt zu Rückschritten in den Vorstellungen, die man sich von
       Geschlechterrollen macht. Und das wiederum hat Folgen für die Gesellschaft
       insgesamt, denn die Kinder sind ja künftige Erwachsene. Ich habe selber die
       Kostüme für meinen Film gekauft, und in den Geschäften war es einfach
       unmöglich, für Mädchen etwas zu finden, was blau oder wenigstens nicht
       gemustert war.
       
       Und das war früher anders? 
       
       Als ich aufwuchs, in den achtziger Jahren, war es gang und gäbe, dass
       Mädchen kurze Haare hatten, ich hatte selbst kurze Haare. Das gibt es heute
       gar nicht mehr! Als wir beim Casting sagten, dass man sich für die Rolle
       die Haare abschneiden müsse, wurden die Mädchen ganz bleich vor Schreck.
       
       Ist es nicht paradox, dass Frauen heute viel mehr Freiheiten und
       Möglichkeiten als in den siebziger und achtziger Jahren haben, die
       Differenz zwischen den Geschlechtern aber viel stärker als früher behauptet
       und betont wird? 
       
       Ja, auf alle Fälle. Und es kommt noch etwas hinzu: Eine neue
       Alterskategorie beginnt sich abzuzeichnen, die der Vorpubertät. Vor gar
       nicht so langer Zeit gab es die noch gar nicht. Die Kindheit hat sich
       zeitlich verkürzt. Früher war man mit zwölf noch ein Kind, heute ist es mit
       neun Jahren vorbei, das trägt zur Radikalisierung bei.
       
       War es schwer, Zoé Héran, die Darstellerin des androgynen Mädchens Laure,
       zu finden? 
       
       Noch ein Paradox, denn es war eigentlich sehr einfach! Wir hatten bei
       diesem Film wenig Zeit für das Casting, nur drei Wochen insgesamt, das
       heißt, ich hatte keine Gelegenheit für ein wildes Casting auf der Straße.
       Wir mussten das über Agenturen regeln, was mich nicht begeisterte, weil die
       Kinder, die von einer Agentur vertreten werden, meistens Erfahrung mit
       Werbung haben und kleinen Äffchen ähneln. Aber mir hatte jemand gesagt,
       dass es dieses Mädchen, das letzten Endes die Hauptrolle bekommen hat,
       gebe, dass sie recht androgyn aussehe. Sie hat am ersten Tag des Castings
       vorgesprochen, und ich habe sie genommen.
       
       Es heißt oft, dass es schwierig sei, Filme zu drehen, in denen Tiere,
       Kinder oder Szenen vorkommen, in denen ausgiebig gegessen wird. In „Tomboy“
       gibt es sehr viele Szenen mit vielen Kindern. Haben Sie das als schwierig
       wahrgenommen? 
       
       Ja, sehr. Bei Tieren hat man Dompteure, bei Kindern nicht. Man muss sich
       eine Methode ausdenken, wie man mit ihnen arbeitet. Und man steht bei
       Kindern insofern allein da, als man mit ihnen die Grundgedanken des Films,
       die Ästhetik nicht teilen kann. Den fertigen Film nehmen sie anders wahr
       als man selbst, man steht also allein mit der Verantwortung da. Und die
       Kinder müssen zwar einerseits als richtige Schauspieler auftreten, weil sie
       sich konzentrieren und verstehen müssen, worum es jeweils geht in ihrer
       Szene, aber auf der anderen Seite muss man ihnen das Ganze als Spiel
       schmackhaft machen, damit sie am Ball bleiben.
       
       Was passiert sonst? 
       
       Sonst kann es sehr leicht zu einer hölzernen Darbietung kommen. Und dann
       gibt es noch eine Schwierigkeit: Ein kleines Mädchen, das sechs Jahre alt
       ist, arbeitet anders als ein Mädchen, das zehn Jahre alt ist. Wenn man
       beide in einer Szene hat, ist das ein Drahtseilakt. Das Schöne daran ist:
       Wenn es funktioniert, empfindet man als Regisseur ein großes Glücksgefühl.
       
       Eine Filmfamilie muss ja als Familie überzeugen, obwohl die vier Darsteller
       sich vermutlich vor Beginn der Dreharbeiten nicht einmal gekannt haben. Wie
       stellen Sie das her? 
       
       Das war in der Tat ziemlich kompliziert. Was ich vermeiden wollte, war, auf
       äußerliche Ähnlichkeiten zu achten. Die Familienszenen waren die
       allerersten, die ich gedreht habe, das heißt, es waren vier Tage, die wir
       nur diesen gewidmet haben. Eine Art Film im Film. Vor allem wollte ich die
       Erwachsenenrollen mit Darstellern besetzen, die verstehen, dass hier in
       erster Linie die Kinder zählen. Die Erwachsenen durften auf keinen Fall
       versuchen, sich in den Vordergrund zu drängen. Dann war natürlich das
       innige Verhältnis zwischen den beiden Mädchen entscheidend, daran lag mir
       besonders viel. Ich habe die beiden Mädchen im Hinblick darauf ausgesucht,
       ob zwischen ihnen die Chemie stimmt. Interessant ist, dass beide
       Einzelkinder sind – über den Film konnten sie erleben, wie es ist, ein
       Geschwisterkind zu haben.
       
       Sie arbeiten mit einer Fotokamera, einer Canon 7D. Warum? Welchen Effekt
       hat das für Ihren Film? 
       
       Ich wollte digital drehen, damit ich beweglich bin. Die Fotokamera ist
       leicht, ich kann damit den Kindern gegenüber auf Augenhöhe drehen, und es
       hat natürlich auch enorme Kostenvorteile. Aus ästhetischer Warte war mir
       viel daran gelegen, dass wir eine besondere Tiefenschärfe erreichen, die
       mit 35 mm vergleichbar ist. Und dann gefiel mir auch, dass diese Fotokamera
       ein Werkzeug der Gegenwart ist. Es kann durchaus sein, dass in sechs
       Monaten niemand mehr mit solchen Geräten arbeitet. Aber im Augenblick
       schon. Außerdem verbinden wir alle unsere Kindheitserinnerungen mit Fotos.
       Ich wollte keinen Film drehen, der irgendwie auf die Nostalgie der Kindheit
       setzt, aber ich wollte schon, dass diese Nostalgie in der Form ihre Spuren
       hinterlässt.
       
       3 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
   DIR Cristina Nord
       
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