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       # taz.de -- Tragikomödie „Mia Madre“: Abschied von der Mutter
       
       > Nanni Moretti zeigt in „Mia Madre“ eine Regisseurin zwischen bedrückenden
       > Krankenhausbesuchen und grotesken Dreharbeiten.
       
   IMG Bild: Souverän neurotisch spielt Margherita Buy die Fimregisseurin Margherita in „Mia Madre“.
       
       Eine Gruppe Arbeiter schreitet mit Transparenten und Bannern Richtung
       Kamera. „No al licenziamento“ steht auf dem größten, „Keine Entlassungen“.
       Dazu wird rhythmisch der Slogan „Wir woll’n Arbeit für alle“ gerufen,
       während die Kamera langsam mit dem Trupp auf eine gepanzerte
       Polizeiformation und das Fabriktor im Hintergrund schwenkt.
       
       Dann Nahaufnahmen auf prügelnde Polizisten und Demonstranten, die
       versuchen, sich zu schützen. Und eine Frau, die mehrfach, „Stopp!“
       schreiend und winkend, ins Bild läuft. Es ist die Regisseurin eines Films
       im Film, die sich erst über die schlechte Komparsenführung beschwert und
       dann über einen der Kameramänner, der viel zu nah an die Filmgeschehnisse
       herangehe.
       
       Margherita (wie die Schauspielerin Margherita Buy) dreht einen Film über
       eine Fabrikschließung, der aber nicht Depression, sondern Energie und
       Hoffnung vermitteln solle, wie sie ihrer herzkranken Mutter in einer der
       nächsten Einstellungen am Krankenhausbett erklärt. Da will sie ihr zur
       Aufbesserung des Krankenhausessens nach der anstrengenden Arbeit ein in der
       Rosticceria gekauftes Hähnchen vorbeibringen.
       
       Doch Bruder Francesco ist ihr zuvorgekommen und serviert der Mutter als
       italienischer Mustersohn auf mitgebrachter blau karierter Tischdecke ein
       selbst gekochtes Menü samt Pasta und frisch geriebenem Parmesan.
       
       Später holt Margherita – offenbar frisch getrennt – ein paar letzte Sachen
       aus der ehemals gemeinsamen Wohnung und muss dann den verspätet und völlig
       erschöpft auf dem Flughafen eingetroffenen Darsteller Barry Huggins ins
       Hotel schaffen. Der wurde in Hollywood rekrutiert, um in dem Film den
       neuen, US-amerikanischen Besitzer des von den Arbeitern besetzten
       Traditionsunternehmens zu geben, und überdeckt seine Unfähigkeit, sich mehr
       als eine Zeile Text zu merken, mit lärmiger Großspurigkeit, die er
       vermutlich für römische Lebensart hält.
       
       ## Das Sterben eines Familienmitglieds
       
       Vor vierzehn Jahren hatte Nanni Moretti mit „La stanza del figlio“ einen
       Film über eine Familie gedreht, die mit dem plötzlichen Tod ihres Sohnes
       konfrontiert wird, und dafür in Cannes 2001 die Goldene Palme bekommen.
       Auch jetzt geht es wieder um das Sterben eines Familienmitglieds. Denn
       Margheritas Mutter (Giulia Lazzarini) hofft zwar selbst noch auf baldige
       Entlassung, doch die Diagnose gibt keinen Anlass zur Hoffnung, auch wenn
       Margherita das bis zum Schluss nicht wirklich wahrhaben will.
       
       Mit dieser Konstellation (der Titel „Mia Madre“ deutet es an) verarbeitet
       Moretti, der seit seinem Spielfilmdebüt „Io sono un autarchisto“ 1976 immer
       wieder autobiografische Elemente in seine Filme einfließen ließ, auch den
       Tod der eigenen Mutter, die während der Dreharbeiten zu „Habemus papam“
       starb.
       
       Doch anders als bei den manchmal arg selbstmitleidigen Arbeiten der 90er
       Jahre, wie „Caro Diario“ oder „Aprile“, ist Moretti selbst hier als
       Margheritas hyperperfekter Bruder nur gelegentlich (und herrlich
       selbstironisch gezeichnet) im Bild, während als sein eigentliches Alter Ego
       die nicht nur gegen die pubertierende Tochter ungerechte und am eigenen
       Selbstverständnis nagende Künstlerin bei einer Pressekonferenz auf dem
       Filmset von Fragen der Journaille nach ihrer Position zum sozial
       engagierten Film gequält wird.
       
       ## Fast mit Kubrick gedreht
       
       Moretti ist klug genug, seinen Film trotz allen persönlichen politischen
       Engagements aus solchen Zuschreibungen herauszuhalten. „Mia Madre“ ist als
       Tragikomödie inszeniert, die gekonnt oszilliert zwischen den zunehmend
       bedrückenden Krankenhausbesuchen und grotesken Szenen mit dem
       größenwahnsinnigen italoamerikanischen Exstar, der am liebsten davon
       erzählt, wie er fast mit Kubrick gedreht hätte, und bei einer
       alkoholisierten Autofahrt durch Rom begeistert aus dem Fenster nach
       Rosselini und Federico Fellini schreit: „Bringt mich in die Via Veneto!“
       
       Das Prinzip der Rollendistanz, das Margherita ihm etwas hilflos zu erklären
       versucht, ist solch übergriffigem Enthusiasmus selbstverständlich völlig
       fremd. Der Darsteller John Turturro dagegen zeigt in seiner ansteckenden
       Spielfreude aufs Vergnüglichste, wie man als Schauspieler ganz in der Figur
       aufgehen und zugleich amüsiert danebenstehen kann.
       
       Es gelingt Moretti glänzend, zwischen verschiedenen Wirklichkeitsregistern
       zu wechseln, wobei sich Erinnerungsfetzen oder Träume visuell in die
       begrenzte Farbpalette des Films einfügen, die neben Graupastelltönen
       deutliche Akzente im Rot und Grün der italienischen Nationalfarben setzt.
       Manchmal auch, etwa wenn die Mutter einmal mit vorsichtigen Schritten das
       Krankenhausgelände erkundet, bleibt das Wann und Wie schwebend offen – in
       einem Film, der große Gefühle scheinbar ganz einfach verhandelt.
       
       19 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Silvia Hallensleben
       
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