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       # taz.de -- Trends und Demut: Ein trauriges Scheuerspektakel
       
       > Beißend scharfes Scheuermittel: Der Olympia-Sponsor und
       > Waschmittelhersteller Procter & Gamble ruft die Londoner dazu auf, ihre
       > Stadt für Olympia sauber zu schrubben.
       
   IMG Bild: Das ist aber auch dreckig, dieses London. Graffiti in East London – könnte demnächst weggeschrubbt werden
       
       Als der Soziologe Marcel Mauss sein berühmtes „Essai sur le don“ verfasste,
       sah er den Dreh- und Angelpunkt in der Gegenseitigkeit: Eine Gabe
       verpflichtet den Empfänger zur Gegengabe. Der Akt funktioniere als soziale
       Institution, die aufgeladen ist mit gegenseitiger Erwartungshaltung und
       Werten.
       
       Wenn also in den roten Doppeldeckerbussen eine putzige Comicanzeige die
       Londoner bittet, den iPod leiser zu drehen oder mit ihren Einkaufstüten
       keine Sitze zu blockieren, dann steckt dahinter Marcel Mauss’ Deal vom
       Geben und Nehmen: Das ist deine Stadt. Sie ist cool zu dir, sei gefälligst
       cool zu ihr. Das kleine Symbol der Verkehrsbetriebe „London Transport“
       dezent in der Ecke des Comics scheint die Natur dieses zarten, gänzlich
       unkommerziellen Tausches nur noch zu besiegeln.
       
       Nun habe ich in der U-Bahn eine Werbung entdeckt, die den Londonern ein
       ähnliches Tauschgeschäft anbieten will. Auf der zugestaubt wirkenden
       Oberfläche wird eine kleine Parabel erzählt: Mutti kommt vorbei und man
       putzt schnell noch einmal durch. Stell dir nun vor, Mutti sind die
       Touristen und deine Bude ist London! Hilf uns, London so zu putzen, als
       seien es deine eigenen vier Wände! Mach deine Mutter stolz!
       
       Das wahrhaft Obszöne an diesem vertraut, heimelig wirkenden Aufruf ist die
       Tatsache, dass nicht die Stadt ihre Bürger zu diesem unkalkulierten Akt an
       Großzügigkeit aufruft. Es ist der Olympia-Sponsor und
       Lebensmittel-Megakonzern Procter & Gamble (Ariel und Co.), der die Londoner
       ganz locker per Du dazu auffordert, eine sozial hochgradig ungleiche Stadt
       blitzblank zu putzen für eines der kostspieligsten
       Milliarden-Werbespektakel der Welt.
       
       Mauss’ These löst sich hier auf wie unter beißend scharfem Scheuermittel,
       denn hinter dieser eingeschäumten Psychologie um Gemütlichkeit und Werte
       (Mach Mutti stolz!) steckt natürlich blanke Gewinnorientierung. Was hier zu
       einem kleinen Putz-Happening verniedlicht wird, ist nichts anderes als eine
       weitere, noch absurdere Spielart britischer Privatisierung: Nach dem
       unbezahlten Hobby-Vorstadtsheriff und dem Hobby-Wohltätigkeitsveranstalter
       ist nun auch der unbezahlt schrubbende Hobby-Putzteufel in uns allen
       gefordert.
       
       Eine Arbeit, für die eine Stadt normalerweise Raumpfleger-Firmen
       beschäftigt und Arbeitskräfte bezahlt. Zwischen den mütterlichen Zeilen
       haben Stadt und Procter & Gamble, meiner Meinung nach, vor allem aber eines
       im Visier: sozial schwächere Bürgerinnen und Bürger, die nun endlich die
       Chance haben, die endlosen Graffiti eigenhändig von ihren trostlosen
       Sozialbunkern zu kratzen. Und P & G ist so lieb und hilft mit Spezialitäten
       aus dem grandiosen Sortiment aus! Die Londoner können bei diesem traurigen
       Scheuerspiel übrigens nur verlieren: Allen, die ernsthaft mitmachen, ist
       ohnehin nicht mehr zu helfen.
       
       Und wer „Mutti“, also den Touristen, amüsiert den Vogel zeigt, muss sich
       Sprüche niederster Schulpädagogik anhören: „Du willst nicht mithelfen? Dann
       möchte ich ja nicht sehen, wie es bei dir zu Hause aussieht …“
       
       18 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Grosse
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