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       # taz.de -- Turnen in der Kritik: Respekt verzweifelt gesucht
       
       > Vor drei Jahren warf Turn-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz ihrer
       > Trainerin Übergriffe vor. Der Verband wollte vieles besser machen. Was
       > hat sich getan?
       
   IMG Bild: Pauline Schäfer-Betz (li.) bei der WM 2019 in Stuttgart
       
       Gut drei Jahre ist nun es her, dass [1][Pauline Schäfer-Betz], 2017
       Weltmeisterin am Schwebebalken, gemeinsam mit anderen Turnerinnen
       öffentlich machte, was sie im Bundesstützpunkt Chemnitz unter der damaligen
       Cheftrainerin [2][Gabriele Frehse] jahrelang über sich hatten ergehen
       lassen: [3][Erniedrigungen], Training mit Verletzungen, eigenmächtige
       Medikamentenvergaben.
       
       Der Deutsche Turner-Bund (DTB) [4][reagierte] damals rasch und entschieden:
       Die Cheftrainerin wurde suspendiert, eine Untersuchung in Auftrag gegeben
       und ein – allerdings schon wieder ausgelaufenes – Projekt mit dem Ziel
       eines „gesamtverbandlichen Kultur- und Strukturwandels“ aufgesetzt. Pauline
       Schäfer-Betz hatte ihren Schritt in die Öffentlichkeit von Beginn an mit
       dem Ziel verknüpft, dass sich für zukünftige Generationen von Turnerinnen
       etwas verändert. Zeit für ein Fazit also.
       
       Um Veränderungen anzustoßen, braucht es das Wissen, wo in der Vergangenheit
       was falsch gelaufen ist oder eventuell weiterhin falsch läuft. Umfassend
       und transparent aufgearbeitet hat der DTB allerdings lediglich die Vorgänge
       am Stützpunkt Chemnitz. Insgesamt 32 Personen wurden befragt, 22 davon
       Turnerinnen, rund 800 Protokollseiten erstellt, Aussagen mit Beweismitteln
       abgeglichen und auf Konsistenz geprüft sowie der Begriff psychischer Gewalt
       definiert.
       
       Die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe wurde nach
       wenigen Monaten – in einer kurzen zusammenfassenden Stellungnahme –
       veröffentlicht: Der Verband sah „schwerwiegende Pflichtverletzungen“ und
       unter anderem die „Anwendung psychischer Gewalt in 17 Fällen“ als erwiesen
       an und forderte die Kündigung der Trainerin durch ihren Arbeitgeber, den
       Olympiastützpunkt Sachsen.
       
       ## „Es sind keine Einzelfälle“
       
       Als Konsequenz wurde das Projekt Leistung mit Respekt aufgesetzt, in dem
       explizit anerkennt wird, dass „die Vorfälle in Chemnitz keine Einzelfälle
       sind“. Tatsächlich hatte es nach den ersten Veröffentlichungen auch
       Schilderungen weiterer Turnerinnen gegeben, die sehr klar auf
       missbräuchliche Praktiken in anderen Stützpunkten hinwiesen. Im Rahmen des
       Projekts wurde eine 'Arbeitsgruppe Bundesstützpunkte’ damit betraut, die
       Situation andernorts zu begutachten.“
       
       Auf Anfrage erklärte der DTB 2022, dass im Zuge der Erkenntnisse der AG
       Bundesstützpunkte „keinerlei Sanktionen“ gegen weitere Trainerinnen oder
       Trainer verhängt worden seien. Sportdirektor Gutekunst erklärte dazu Anfang
       2023, man habe aus den Ergebnissen „interne Maßnahmen“ abgeleitet, die mit
       den Stützpunktleitern besprochen worden seien, und versicherte: „Wir legen
       bei allen Fällen den gleichen Maßstab an.“
       
       Etwas anderes ist die juristische Aufarbeitung. Das arbeitsrechtliche
       Verfahren gegen Gabriele Frehse endete erst im Sommer 2023 in einem
       Vergleich, nicht zuletzt, weil ihr Arbeitgeber, der Olympiastützpunkt
       Sachsen, wenig Interesse an der Auflösung des Vertrages zeigte. Die
       Chemnitzer Cheftrainerstelle konnte demzufolge erst vor Kurzem wieder
       ausgeschrieben werden, Frehse selbst wurde im Sommer vom österreichischen
       Turnverband als Nationaltrainerin angestellt. Das Ermittlungsverfahren im
       Zuge der von Pauline und Helene Schäfer-Betz sowie Leonie Papke Ende 2020
       erstatteten Anzeige wegen Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener und
       fahrlässiger Körperverletzung wurde 2023 von der Staatsanwalt Chemnitz zum
       zweiten Mal eingestellt. In der Einstellungsbegründung heißt es über die
       Schilderungen psychischer Gewalt unter anderem, dieser „seelische Druck ist
       im Profisport bedauerlich, aber normal“. DTB-Präsident Alfons Hölzl, selbst
       Rechtsanwalt, erklärte im vergangenen Juli, dass die juristischen Hürden,
       psychischen Missbrauch vor deutschen Gerichten ahnden zu können, aus seiner
       Sicht aktuell „extrem hoch“ seien. Damit dies gelänge, „müsste ein Umdenken
       erfolgen“, hier müsse eventuell der Gesetzgeber nachschärfen und zum
       Beispiel den Missbrauchsbegriff „konkreter in einen Straftatbestand
       aufnehmen“.
       
       Der DTB hatte frühzeitig konkrete sportpolitische Forderungen aufgestellt.
       So die Ausweitung des Stützpunktkonzepts – damit junge Mädchen nicht in
       Hunderte Kilometer entfernte Internate ziehen müssen, um an ihren
       Olympiaträumen zu arbeiten – oder die Wiedereinführung des Sonder-Kaders –
       damit Turnerinnen, die verletzt oder in der vulnerablen Pubertätsphase sind
       und deshalb eine Kadernorm verpassen, nicht gleich aus dem Kader fliegen
       und ihren Stützpunkten oder Vereinen damit oft wichtige Gelder verloren
       gehen.
       
       ## Lösungen sind zu teuer
       
       Beide Anliegen harren der Einlösung. DTB-Generalsekretär Kalle Zinnkann
       erklärt dazu: „Das Thema finanzielle Ressource bindet uns da sehr“, und
       verweist auf den DOSB und seine Leistungssportreform, die tendenziell eine
       Reduzierung der Stützpunkte, eventuell gar eine komplette Zentralisierung
       favorisiere. „Wir haben als DTB da ganz klar kommuniziert, dass wir dem
       aufgrund der Altersstruktur unserer Athletinnen und Athleten nicht folgen
       können und dass wir eine andere Lösung brauchen.“ Im Verband bemühte sich
       2023 eine Referentin auf einer Dreiviertelstelle um die Verstetigung des
       „Leistung mit Respekt“-Projekts: Sie soll identifizierbare Ansprechperson
       für Athletinnen sein, Koordinatorin weiterführender Projekte, Mitarbeiterin
       an „Verhaltensregeln“, Scharnier zu den Landesturnverbänden und vieles
       anderes mehr. Kalle Zinnkann sagt: „Mit einer Stelle ist es nicht getan.
       Wir bräuchten deutlich mehr Ressourcen.“
       
       Eine dritte Forderung ist die Anhebung des Startalters für internationale
       Seniorenwettbewerbe von 16 auf 18 Jahre und die entsprechende Angleichung
       für Juniorenwettkämpfe. Dass ein solcher Schritt die Gefahr
       missbräuchlicher Praktiken, denen nicht zuletzt durch das asymmetrische
       Verhältnis zwischen übermächtigen Trainerfiguren und ehrgeizigen Kindern
       Vorschub geleistet wird, senken würde, ist sowohl das Ergebnis aktueller
       Untersuchungen, wie des britischen Whyte Report, als auch wissenschaftlich
       bereits seit Jahren beschrieben worden.
       
       Nun ist einerseits dem DTB sonnenklar, dass diese Forderung
       international keine Chance hat, da turnerische Großmächte wie USA,
       Russland, China dagegen sind. Andererseits spräche nichts dagegen, diese
       Forderung national umzusetzen, entsprechende Programme anzupassen und nur
       18-Jährige ins internationale Rennen zu schicken.
       
       Der DTB hat in den vergangenen drei Jahren zweifelsohne viele wichtige
       Aspekte im Rahmen der internationalen Debatte um missbräuchliche
       Trainingspraktiken adressiert, er hat mit [5][Gerben Wiersma] einen
       Bundestrainer eingestellt, der sich bislang öffentlich recht glaubwürdig
       komplett der Haltung des angestrebten Kulturwandels verschreibt, er hat
       eine Dreiviertelstelle im Verband eingerichtet, um das Thema weiter zu
       beackern – kurzum: Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass einige Menschen
       im Verband das Thema ernst nehmen.
       
       Für das Projekt hatte man eine Maxime ausgegeben, der zufolge man
       „international konkurrenzfähig“ und „erfolgreich“ sein möchte, und zwar
       „unter Berücksichtigung, dass vom Beginn bis zum Ende der aktiven Karriere,
       das Kindeswohl, die Persönlichkeitsrechte und eine gesunde
       Persönlichkeitsentwicklung jederzeit gewährleistet sind“. Ob ihm das
       langfristig gelingen wird, bleibt auch nach drei Jahren eine offene Frage.
       
       5 Feb 2024
       
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