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       # taz.de -- UNHCR-Statistiker über Flüchtende: „Flucht ist ein dynamisches Feld“
       
       > Wie lassen sich 100 Millionen Flüchtende zählen? Der UNHCR-Statistiker
       > Tarek Abou-Chabake über seinen Versuch, das Leid der Welt in Zahlen zu
       > messen.
       
   IMG Bild: Menschen im Kongo flohen im Mai vor Kämpfen zwischen Streitkräften und M23-Rebellen
       
       taz: Herr Abou-Chabake, Sie haben die Zahl vertriebener Menschen auf der
       Welt Ende 2021 mit 89,3 Millionen höher denn je taxiert. Wie genau kann
       ein solcher Wert wirklich sein? 
       
       Tarek Abou-Chabake: [1][In die Berechnung fließen eigene Zahlen, Angaben
       von Regierungen und NGOs ein]. Wir können viele Bereiche so relativ genau
       eruieren. Aber Flucht ist ein sehr dynamisches Feld. Und auch wenn unsere
       Berechnung sehr exakt ist, kann sie natürlich nicht perfekt sein. Manche
       der eingeflossenen Zahlen sind Schätzungen. Das gilt vor allem für die
       Binnenvertriebenen, die großen Schwankungen unterliegen. Aber insgesamt
       denken wir, dass die Summe von 89,3 Millionen eine sehr genaue Angabe ist.
       
       Wie hoch ist die Dunkelziffer, [2][etwa von Menschen im Transit in Libyen]
       oder großen Fluchtbewegungen in schwer zugänglichen Regionen Afrikas? 
       
       Manche abgelegenen Regionen sind für uns in der Tat physisch nicht
       zugänglich. Aber dann gibt es zum Beispiel Satellitenbilder, auf deren
       Grundlage man schätzen und etwa die Zahl der Behausungen mit einem
       wahrscheinlichen Faktor von Bewohnern multiplizieren kann. Bei Menschen im
       Transit hängt es davon ab, ob sie schon einen Asylantrag gestellt haben.
       Wenn sie das erst noch beabsichtigen, sind sie in einer Grauzone, die
       statistisch schwierig zu definieren ist.
       
       Die offizielle Zahl globaler Flüchtlinge hat sich in den letzten zehn
       Jahren verdoppelt. Wie viel davon geht auf zusätzliche Konflikte und
       Vertreibung zurück, wie viel auf bessere Erfassungsmöglichkeiten und auf
       eine breiter gewordene Flüchtlingsdefinition? 
       
       Es gibt diese beiden Effekte, aber beide sind nicht exakt quantifizierbar.
       Die Datenaufbereitung hat sich in den letzten zehn Jahren stark verbessert,
       es gibt bessere Technologien zur Erfassung. Gleichzeitig hat die Zahl der
       Konflikte zugenommen. Heute leben nach einer Schätzung der Weltbank 850
       Millionen Menschen in 23 Ländern mit hoher oder mittlerer Intensität an
       Konflikten.
       
       Polen hat praktisch allen Hilfsorganisationen, inklusive dem UNHCR, den
       Zugang zum Grenzgebiet nach Belarus verboten. Inwiefern erschweren solche
       Schikanen Ihre Möglichkeiten, das Fluchtgeschehen zu quantifizieren? 
       
       In der EU sind die Regierungen für die meisten Zahlen verantwortlich. Wir
       erheben die nicht selbst, sondern verlassen uns dabei etwa auf polnische
       Behörden, auch bei den Flüchtlingen aus der Ukraine. Wir gehen aber davon
       aus, dass diese Zahlen belastbar sind.
       
       Die weitaus größte Gruppe mit über 53 Millionen Menschen sind
       Binnenvertriebene im eigenen Land. Wenn man etwa an einen Hirten aus
       Nordnigeria denkt, der aus Angst vor Überfällen der Boko Haram nach Lagos
       flüchtet und dort auf der Straße lebt – wie würden Sie von ihm erfahren? 
       
       Binnenvertriebene sind eines der am schwierigsten zu erfassenden Phänomene.
       Der beschriebene Fall ist natürlich ein Paradebeispiel dafür, warum das so
       ist. Generell erfordern solche Situationen oft teure und statistisch
       komplexe Studien.
       
       In Deutschland etwa erhalten Flüchtlinge nach der Anerkennung eine
       Aufenthaltserlaubnis und können später festere Aufenthaltstitel bis hin zur
       Einbürgerung bekommen. Wie lange zählen Sie jemanden dann noch als
       Flüchtling? 
       
       Solange jemand Flüchtlingsschutz genießt, unabhängig vom Zeitraum. Für uns
       heißt das entweder bis zur Einbürgerung, zum möglichen Entzug des
       Flüchtlingsstatus, zu einer Rückkehr oder dem Tod.
       
       Sie beziffern die Zahl der nötigen Plätze für die Neuansiedlung von
       Geflüchteten aus humanitären Gründen, das sogenannte Resettlement, auf
       derzeit 1,6 Millionen. Gab es für alle ein Verfahren, diesen Bedarf
       festzustellen? 
       
       Nein, die Zahl ist eine Schätzung auf Basis der Registrierungsdaten. Wir
       gehen davon aus, dass Flüchtlinge speziellen Schutz erhalten und dazu
       umgesiedelt werden sollten, wenn etwa starke Traumata vorliegen. Die Zahl
       jener, die tatsächlich einen solchen Platz bekommen, ist leider extrem
       gering, das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben 2021 rund
       63.200 Anträge auf Umsiedlung an mögliche Aufnahmeländer gestellt. Nur ein
       Teil dieser Anträge wird angenommen.
       
       Die weitaus größten Fluchtbewegungen werden in der Zukunft als Reaktion auf
       die Klimakrise erwartet. Trotzdem wendet sich der UNHCR im Jahresbericht
       gegen den Begriff „Klimaflüchtling“ – auch weil er im internationalen Recht
       nicht enthalten und schwierig zu fassen sei. Können Sie sich trotzdem eine
       Definition vorstellen, mit der „Klimaflüchtlinge“ methodisch sinnvoll
       erfasst werden könnten? 
       
       Ja, das kann ich, auch wenn es ein sehr komplexes Unterfangen ist.
       Innerhalb der statistischen Gemeinde gab und gibt es umfassende
       Diskussionen dazu. Dem höchsten Gremium, der UN Statistical Commission,
       wurde dazu im vergangenen März ein Vorschlag unterbreitet, wie Indikatoren
       für Klimawandel operationalisiert werden sollen. In einem zweiten Schritt
       könnte es dann darum gehen, wie festgestellt wird, inwiefern er Personen
       konkret betrifft. Dies könnte zu einem Entwurf führen, der in den kommenden
       Jahren abgesegnet werden und die Möglichkeiten der Zählung verbessern wird.
       
       Kürzlich hieß es, selbst die Flutopfer aus dem deutschen Ahrtal würden nun
       als Flüchtlinge gelten. Stimmt das? 
       
       Nein. Die Opfer des Ahrtal-Unglücks sind nicht Teil irgendeiner anderen
       UNHCR-Statistik. Das würde ja auch nicht passen, weil es nach keiner Lesart
       Flüchtlinge sein könnten.
       
       16 Jun 2022
       
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