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       # taz.de -- Über Eingriffe ins Jagdwesen: Vom Leben der Prädatoren
       
       > Ist es richtig, dem eigenen Kater tatenlos beim Töten zuzusehen? Der
       > Ethikrat ist der Frage gegenüber aufgeschlossen, aber an der Antwort
       > gehindert.
       
   IMG Bild: So sieht sie aus, die Nahrungskette in natura
       
       Da die Ansprüche an Abendunterhaltung geringer geworden sind, gehe ich
       manchmal in der Dämmerung zum Altpapiercontainer. Es ist ein kluger
       Schachzug, denn das Altpapier gibt der Sache einen nützlichen Anschein,
       während ich an den Fenstern vorüberstreiche in der Hoffnung, anderer Leute
       Leben wie ein Bilderbuch betrachten zu können, das geschrieben wurde, als
       es noch keine Soundbücher gab.
       
       Als ich um die Straßenecke bog, sah ich drei Schatten, die sich unter einen
       Fenstervorsprung duckten, und den Kopf eines dicken Mannes, der suchend
       nach draußen schaute. Die Schatten gehörten zum Ethikrat, dessen
       Vorsitzender den Zeigefinger vor den Mund hielt. Der Ethikrat, das sind
       drei ältere Männer von geringer Größe, die mir [1][gelegentlich
       Handreichungen in praktischer Ethik geben]. „Haben Sie jemanden hier
       herumlaufen sehen?“, fragte mich der dicke Mann unwirsch. „Nein“, sagte ich
       und dachte, dass man den Einfluss des Ethikrats zweifelhaft nennen könnte.
       
       Hinter der nächsten Ecke wartete ich und tatsächlich erschien der Rat nach
       fünf Minuten. „Wir haben eine Feldforschung mit Elementen der paradoxen
       Intervention aufgenommen“, sagte der Ratsvorsitzende und strich Erde von
       den Knien seiner Hose. „Wie interessant“, sagte ich. „Sicher sind das
       bemerkenswerte Begegnungen.“ – „Durchaus“, sagte der Ethikratsvorsitzende,
       aber er schien nicht gewillt, das Thema zu vertiefen. „Haben Sie eine
       Fragestellung für uns mitgebracht?“ – „Ja“, sagte ich, erleichtert, etwas
       parat zu haben und auch, weil ich mir von einer Antwort des Ethikrats
       häuslichen Frieden versprach. Als hätte ich vergessen, dass mich seine
       Antworten in der Regel ratlos hinterlassen.
       
       „Kürzlich“, sagte ich, „erzählte mir mein Freund am Telefon, dass er
       beobachtet hat, wie unser Kater eine Maus gefangen und dann getötet hat.
       Ich fragte ihn, warum er nicht die Maus gerettet habe. ‚Es ist von der
       Natur so eingerichtet, dass der Kater jagt, warum sollte ich das
       unterbinden?‘, fragte mein Freund. ‚Weil es bitter für die Maus ist, mit
       der er noch ewig spielt‘, sagte ich. ‚Es ist das Bedürfnis des Katers zu
       jagen‘, sagte mein Freund. ‚Dem kann er ja nachgehen, wenn man nicht
       daneben steht‘, sagte ich. Mein Freund sagte noch etwas über mein
       Nicht-Vegetarier-Dasein und wir schieden eher kühl.“
       
       ## Das Leben auf Kosten anderer Säugetiere
       
       „Ich habe noch meine Schwester, die Biologin ist, dazu befragt“, sagte ich
       zum Ethikrat. „Sie sagte, dass die Natur ein System geschaffen hat, in dem
       es Prädatoren gibt und solche, die in der Nahrungskette weiter unten
       stehen. Und dass wir Menschen in der Zivilisation uns nicht mehr klar
       machen müssen, dass wir auf Kosten anderer Säugetiere leben.
       
       „Was ist ein Prädator?“, fragte zu meiner Überraschung eines der
       Ethikratsmitglieder, das nie etwas sagte. Ich hatte es bis vor Kurzem auch
       nicht gewusst, aber jetzt konnte ich beiläufig sagen: „Es sind Fraßfeinde
       anderer Tiere, die eben nur auf Kosten dieser anderen existieren können.“
       Meine Schwester hatte gesagt, dass sie es verständlich fände, dem
       Fraßfeindsystem in den Arm zu fallen, trotz allem. „Was denken Sie“, wandte
       ich mich an den Ethikrat. „Ist es sentimental und auch verlogen, dem Kater
       die Maus abzujagen?“
       
       „Die Perspektive Ihrer Schwester ist natürlich erst einmal eine rein
       naturwissenschaftliche“, sagte der Ratsvorsitzende, und ich dachte, dass
       auch der Ethikrat nicht frei von Platzhirschgebaren sei. Außerdem schätze
       ich es nicht, wenn jemand, der nicht ich ist, meine Schwester kritisiert.
       „Meine Schwester denkt durchaus interdisziplinär“, begann ich, aber da
       näherte sich ein Schatten, der sich als der dicke Mann von vorhin
       entpuppte.
       
       „Wir vertagen uns“, murmelte der Ratsvorsitzende und dann nahm sich der Rat
       an der Hand und rannte in einer Dreierkette davon. Ich sah ihn laufen und
       dachte mit Wohlgefallen zurück an mein letztes Treffen mit dem Kater, als
       ich ihm schnell, sehr schnell eine Maus abjagte.
       
       21 May 2021
       
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