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       # taz.de -- Übergewichtige werden stigmatisiert: Spießrutenlaufen für Dicke
       
       > Für Übergewichtige hat die Ausgrenzung Folgen: Sie haben ein erhöhtes
       > Risiko, an Depressionen oder Angststörungen zu erkranken.
       
   IMG Bild: Beschimpft und stigmatisiert: übergewichtige Menschen.
       
       „Nimm doch endlich ab!“ Dies mag lediglich ein gut gemeinter Ratschlag an
       übergewichtige Zeitgenossen sein, in Wirklichkeit kann dies bereits als
       Diskriminierung gewertet werden. Denn der Rat impliziert, dass Abnehmen
       ganz einfach sei, dass es Dickleibigen bloß an der nötigen Disziplin
       mangele. Und so gelten sie als dumm, faul, zügellos, animalisch, ihr
       Aussehen scheint selbst verschuldet. Eltern dicker Kinder wird teilweise
       Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung unterstellt.
       
       Doch diese Vorurteile haben immense Auswirkungen auf das Leben mit zu
       vielen Pfunden: Betroffene werden ausgegrenzt, abgewertet, beschimpft,
       gemobbt. Eine Studie der Universität Leipzig mit 3.000 Teilnehmern hat
       kürzlich belegt, dass fast jeder zweite Adipöse auf dem Arbeits- und
       Wohnungsmarkt diskriminiert wird, bei Menschen mit leichtem Übergewicht
       waren es immerhin noch 6 Prozent.
       
       Vor allem übergewichtige Frauen berichteten mit 21 Prozent deutlich
       häufiger von Problemen als Männer (8 Prozent). Frühere Studien zeigten,
       dass Personaler dicken Frauen weniger angesehene Tätigkeiten zuordnen und
       sie weniger verdienen als schlanke Arbeitskolleginnen.
       
       Aber nicht nur die Allgemeinbevölkerung stigmatisiert Menschen mit
       Adipositas, auch Ärzte und Diätassistenten haben ihnen gegenüber eine
       tendenziell negative Einstellung – obwohl gerade sie es besser wissen
       müssten. Denn: Übergewicht ist eben nicht leicht unter Kontrolle zu
       bringen, nur einer von 10 Abnehmwilligen schafft eine dauerhafte
       Gewichtsabnahme.
       
       Das liegt daran, dass Übergewicht teilweise genetisch quasi „programmiert“
       ist. So weiß man, dass die Gene bis zu 80 Prozent bei der Entstehung
       mitspielen, genauso wie nur schwer zu beeinflussende Umweltfaktoren, etwa
       der Wohnort, die Bildung der Eltern, die kulturelle Verwurzelung oder auch
       der allzu leichte Zugang zu Nahrungsmitteln, wie es in westlichen
       Überflussgesellschaften der Fall ist.
       
       Der Alltag für Menschen, die nicht dem schlanken Ideal entsprechen, ist
       mittlerweile ein Spießrutenlauf, er ist purer psychosozialer Stress
       aufgrund der ständigen Sticheleien und Tuscheleien. Und das hat schlimme
       Folgen. So hat eine Literaturübersicht mit 46 Studien unter Leitung von
       Claudia Sikorski, Psychologin an der Universität Leipzig, Anfang 2015
       aufgedeckt: Übergewichtige haben starke Minderwertigkeitsgefühle und ein
       schlechtes Körpergefühl.
       
       Sie verinnerlichen, internalisieren also das negative Bild, das sich durch
       die Stigmatisierung zeigt als Selbstbild. Und das erhöht die
       Wahrscheinlichkeit, an Depressionen oder Angststörungen zu erkranken.
       Menschen mit Adipositas haben ein etwa 50 Prozent erhöhtes Risiko, eine
       Depression zu entwickeln – der humorvolle fröhliche Dicke ist also ein
       Mythos aus den Nachkriegsjahren.
       
       ## Appetit wird stimuliert
       
       Auch ungünstige Bewältigungsstrategien kommen bei ihnen deutlich häufiger
       vor im Vergleich zu Normalgewichtigen. Studien belegen etwa, dass
       Übergewichtige, die einem starken sozialen Druck ausgesetzt sind, eher noch
       mehr essen, Diäten abbrechen und weniger Sport machen.
       
       Das „Ins-Gewissen-Reden“ ist also alles andere als hilfreich, um Pfunde zu
       verlieren. Denn der Körper reagiert auf chronischen Stress mit einem
       dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel im Blut, was den Appetit stimuliert,
       Sättigungsmechanismen hemmt und den Fettabbau blockiert. Möglicherweise
       gehen auch Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Fettstoffwechselstörungen
       zum Teil direkt auf das Konto der ablehnenden Haltung gegenüber Menschen
       jenseits des herrschenden Schönheitsideals.
       
       Auch Diäten tragen ihr Scherflein zur Stresssituation bei. Denn Hunger
       deutet der Körper als Alarmzeichen und versucht über verschiedene
       Mechanismen an Nahrung zu gelangen. Einige Forscher wie Ann
       McPherson-Sanchez von der University of Puerto Rico sind etwa der Meinung,
       dass die Etablierung des Idealgewichts in den 1970er Jahren zur
       Übergewichtsepidemie geführt habe.
       
       Schon übergewichtige Kinder und Jugendliche internalisieren das Fremdbild,
       leiden unter Depressionen, haben Todessehnsüchte. Das führt dazu, dass die
       Betroffenen schlechte Noten nach Hause bringen, weniger Sport treiben,
       später werden viele Schulverweigerer oder internetsüchtig.
       
       ## Dicksein in der Pubertät
       
       Eva Barlösius, Soziologin an der Universität Hannover, hat in einer Studie
       im Jahr 2012 aufgedeckt, dass Dicksein in der Pubertät, in der Zeit, in der
       Zurückweisungen durch das andere Geschlecht besonders dramatisch empfunden
       werden, ein erheblich belastendes und prägendes Ereignis darstellen. Die
       Folge: Die Betroffenen ziehen sich zurück, isolieren sich, vereinsamen.
       
       Dicke zeigen zudem eine geringe Problembewältigung. Gerade bei einem
       Abnehmprogramm ist jedoch der Glaube an die eigenen Fähigkeiten wichtig –
       „Selbstwirksamkeit“ heißt dies im Fachjargon. Die Wissenschaftler der
       Universität Leipzig sind daher auf der Suche nach einer verbesserten
       Adipositastherapie, die diesen Teufelskreis durchbricht. In der Leipziger
       Adipositasambulanz wird bereits jetzt neben Ernährung und Bewegung mit
       einer kognitiven Verhaltenstherapie gearbeitet. Zudem sollen die Patienten
       lernen, ihren Körper zu akzeptieren, um das Stigma zu überwinden.
       
       Doch sind dies nur Tropfen auf den heißen Stein, solange sich das
       gesellschaftliche Klima nicht ändert. Und das ist bestimmt vom
       Gesundheitswahn, vom „Healthismus“. So üben Krankenkassen und
       Versicherungen Druck aus, gesund zu leben, sonst drohen Extrazahlungen.
       Zahlreiche Gesundheits-Apps ermöglichen es den Selbstoptimierern, ihre
       Performance in Echtzeit am Smartphone abzurufen.
       
       Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin am Wiener Zukunftsinstitut,
       schreibt in ihrem Buch „Muss denn Essen Sünde sein?“: „Diejenigen, die sich
       dieser Disziplin nicht völlig unterwerfen, stehen als verantwortungslose
       Hedonisten da.“ Denn die Maßlosen sind ja die, die später krank sind und
       die Sozialkassen belasten, so wird gerne auch von Medizinern argumentiert.
       
       ## Gegenbewegung zum Schlankheitswahn
       
       Vor allem dicke Frauen würden geradezu zu „Monstern“ gemacht. Das hat eine
       Analyse der Webseite von Weight Watchers sowie der Frauenzeitschrift
       Brigitte aufgedeckt. „Das geschieht indirekt, indem das strukturale Double
       des Schlanken angeblich stets ein mangelhaftes Leben führt und sich abseits
       des „Normalen“ befindet“, schreibt Paula-Irene Villa, Genderforscherin an
       der LMU München.
       
       Immerhin gibt es eine Gegenbewegung zum Schlankheitswahn, die
       Fat-Acceptance-Bewegung. Anfang des Jahres wurde in den USA eine Frau mit
       Kleidergröße 54 bei der Modelagentur MiLK Management unter Vertrag
       genommen.
       
       In Deutschland sind es zwar nur vereinzelte Versuche, gegen die
       Dickenfeindlichkeit ankämpfen, etwa in feministischen Blogs wie
       Mädchenmannschaft. Trotzdem ist dies hilfreich, da sich Einstellungen nur
       bessern, wenn eine schlechte Meinung – in diesem Fall über Adipöse – in der
       Allgemeinbevölkerung völlig inakzeptabel ist. Erst dann werden Kommentare
       wie „fette Kuh“ quasi unaussprechbar. In der Fachwelt wird zudem
       diskutiert, ob eine Einstufung der Adipositas als Behinderung dabei hilft,
       der Diskriminierung etwa in der Arbeitswelt Herr zu werden.
       
       Die Leipziger Forscher sehen den Gesetzgeber in der Pflicht: „Es könne erst
       eine rechtliche Gleichstellung von schlanken und übergewichtigen
       Arbeitnehmern geben, wenn Adipositas als Behinderung definiert werde.“
       
       Berichtigung: Ursprünglich stand in dem Text, dass Adipositas hierzulande
       noch nicht als „ernstzunehmende Erkrankung definiert“ sei. Das stimmt
       nicht. Adipositas ist als Krankheit anerkannt. Der Text ist korrigiert
       worden.
       
       24 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kathrin Burger
       
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