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       # taz.de -- Uiguren in „Umerziehungslagern“: Was offiziell nicht geschah
       
       > Lange Zeit wusste man nicht, was in den chinesischen „Umerziehungslagern“
       > in Xinjiang passierte. Neue Bücher erzählen nun vom Psychoterror.
       
   IMG Bild: Mihrigul Tursun erlebte Folter und Psychoterror in einem „Umerziehungslager“
       
       Berichte über die Existenz sogenannter [1][Umerziehungslager in Chinas]
       nordwestlicher Provinz Xinjiang gibt es etwa seit 2017. Schätzungen von
       Menschenrechtsorganisationen zufolge sind dort zeitweilig mindestens eine
       Million Angehörige der muslimischen Minderheiten der Uiguren und Kasachen
       eingesperrt gewesen.
       
       Noch heute gibt es diese Lager in großem Stil, wenngleich mit mutmaßlich
       weniger Insassen. Denn die Regierung praktiziert inzwischen weniger
       offensichtlichere Formen der Kontrolle, Unterdrückung und
       Zwangsassimilation der muslimischen Bevölkerung. Chinas Regierung streitet
       die Existenz der Lager nicht mehr ab. Peking nennt sie „Ausbildungszentren“
       und stellt sie dar als Maßnahme gegen islamistischen Terrorismus wie als
       Fürsorge für die dortigen Muslime.
       
       Eine unabhängige internationale Untersuchung der Lager lässt Peking nicht
       zu, wie auch der Zugang nach Xinjiang für unabhängige Journalisten
       inzwischen so gut wie unmöglich ist. Dabei lädt Peking selbst gelegentlich
       gefällige Youtuber, Reiseblogger und andere Influencer ein, um Videos über
       die landschaftliche Schönheit der Region und ihre freundlichen Bewohner zu
       veröffentlichen. Darin wird verkündet, dort seien gar keine Lager
       vorhanden, denn auf Nachfrage habe niemand deren Existenz bestätigen
       können.
       
       Über die Zustände und Behandlung in den Lagern gibt es kaum Berichte. Sie
       stammen alle von Personen, denen später die Ausreise ins Ausland gelang –
       wegen dort lebender Angehöriger und der Hilfe von Botschaften.
       
       ## Menschenunwürdige Zustände
       
       Jetzt sind gleich zwei Bücher uigurischer Frauen erschienen, die in
       Xinjiang an unterschiedlichen Orten – Mihrigul Tursun bis April 2018 und
       Gulbahar Haitiwaji bis März 2019 – in Umerziehungslagern saßen und ihre
       traumatischen Erlebnisse mit Hilfe westlicher Journalistinnen
       aufgeschrieben haben. Haitiwajis Tochter mobilisierte die französische
       Regierung, sodass sie freikam.
       
       Tursun konnte ausreisen, da ihre Kinder die ägyptische Staatsbürgerschaft
       hatten. Doch die chinesische Regierung schikanierte Tursuns Familie bei der
       Ausreise, die sich immer weiter hinauszögerte, sodass ihr Mann seinen
       Urlaub massiv überzog. Er selbst sitzt jetzt in Dubai im Gefängnis, da sein
       Arbeitgeber ihn verklagte.
       
       Tursun und Haitiwaji berichten von Folter und Misshandlungen, Todesfällen,
       Vergewaltigungen, Elektroschocks, Psychoterror, Indizien von
       Zwangssterilisationen, Dauerüberwachung, Sippenhaft, Entsolidarisierung und
       insgesamt menschenunwürdigen Zuständen. Gemeinsam ist den beiden Frauen mit
       Hochschulbildung, dass sie sich bis zum Ende als unschuldige gute
       Bürgerinnen fühlten. Sonst wären sie nie freiwillig aus dem Ausland nach
       China zurückgekehrt. Doch ihren Peinigern schien es nur darum zu gehen, sie
       zu brechen und zu willfährigen Instrumenten des Regimes zu machen. Diesem
       sollten sie huldigen und ihre „Verbrechen“ gestehen. Umgekehrt wollten die
       Frauen irgendwann nur noch den nicht auszuhaltenden Horror irgendwie
       beenden – tot oder lebendig.
       
       Mihrigul Tursun hatte Interesse an der arabischen Sprache entwickelt, als
       sie in Guangzhou für eine Firma arbeitete, die mit arabischen Ländern
       Geschäfte machte. Darauf bewarb sich Tursun für ein Stipendium in Ägypten.
       In Kairo lernte sie ihren Mann kennen.
       
       ## „Umerziehung“ durch Angst
       
       Nach der Geburt von Drillingen reiste sie 2015 zum Besuch ihrer Eltern nach
       China. Dort wurde sie sofort von ihren Säuglingen getrennt und verhaftet,
       offenbar aus Angst, sie könne den Bazillus des „Arabischen Frühlings“
       mitbringen. Zwei Monate später war einer der Säuglinge gestorben, die
       anderen beiden krank. Tursun wurde freigelassen, um die Kinder
       aufzupäppeln, die Ägyptens Staatsbürgerschaft haben. Tursuns Pass wurde
       einbehalten, sie konnte nicht ausreisen, wurde permanent überwacht und
       durfte ihren Mann nicht kontaktieren. Im April 2017 hatten sich ihre Kinder
       stabilisiert, sie wurde erneut festgenommen und kam in ein
       [2][Umerziehungslager].
       
       Der „Unterricht“ bestand darin, ein Buch mit Slogans der Kommunistischen
       Partei sowie Sprüchen von Mao Zedong und dem heutigen Staats- und
       Parteichef Xi Jinping auswendig zu lernen. So musste sie immer wieder
       aufsagen: „Es ist unsere Verantwortung, hart für die große Erneuerung der
       chinesischen Nation zu arbeiten.“ Oder: „Was ist die Quelle allen Übels?
       Separatismus, Terrorismus, Extremismus.“ Dazu gab es militärische Übungen
       und immer wieder Schikanen, etwa wenn bei der Essensausgabe das
       individuelle Singen der Nationalhymne zur Voraussetzung für den
       Nahrungserhalt gemacht wurde.
       
       Die Muslima musste immer wieder Sprüche wie „Meine Religion ist die
       Kommunistische Partei und mein Gott ist Xi Jinping“ nachbeten. Am stärksten
       belastete sie das Aufsagen von Gedichten, die sie an ihre Eltern erinnerten
       und Schuldgefühle auslösten. „Deine Eltern möchten, dass du nach Hause
       zurückkommst und sie umarmst… Verdienen deine Eltern so ein Kind, das
       Verbrechen begangen hat? Haben sie Kinder, die keine Zukunft haben,
       verdient?“ Tursun: „In solchen Momenten, während ich auf der Stelle
       marschierte und dabei zum hundertsten Mal den Text aufsagte, glaubte ich
       wirklich an den Inhalt. Ja, die Kommunistische Partei hatte nur das Beste
       für meine Zukunft gewollt. Aber ich hatte ihr Angebot zurückgewiesen und
       hatte mich undankbar gezeigt. Deshalb war ich selbst schuld an meinem
       Schicksal. Damals begann ich so zu fühlen. Die tägliche Gehirnwäsche begann
       zu wirken.“
       
       [3][Gulbahar Haitiwaji] hatte schon zehn Jahre in Frankreich gelebt, als
       sie im November 2016 von ihrem früheren Arbeitgeber unter einem Vorwand
       nach China gelockt wurde. Anders als ihr Mann und ihre Töchter hatte sie
       Chinas Staatsbürgerschaft behalten, um so leichter ihre Eltern besuchen zu
       können. Bei der Ankunft in Xinjiang schnappte die Falle zu. Man hielt ihr
       ein Foto vor, das ihre ältere Tochter auf einer Demonstration von Uiguren
       in Paris zeigte. Für die nächsten zweieinhalb Jahre verschwand Haitiwaji,
       die früher in China als Ingenieurin gearbeitet hatte, im Umerziehungslager
       Baijiantan. Dort habe es jeden Freitag eine mündliche und eine
       schriftliche Prüfung gegeben. Sie schreibt: „Unter dem misstrauischen Blick
       der Lagerleitung käuen wir abwechselnd den kommunistischen Brei wieder, der
       uns täglich vorgesetzt wird … Wir sind nur noch abgestumpftes Vieh.“
       
       Auch bei ihr verfängt die „Umerziehung durch Angst, Erpressung und Zensur“,
       wie sie es nennt: „Stück für Stück hat diese heimtückische Strategie der
       Umerziehung meine Wachsamkeit überrumpelt. Als ich noch die Kraft dazu
       hatte, sagte ich mir immer, das alles sei nur ein Lügengespinst, ich würde
       zwar tun, als gehöre ich dazu, aber meinen kritischen Verstand bewahren.
       Dummerweise habe ich Gefallen an dem Spiel gefunden. Kaum waren die Riegel
       hinter uns vorgeschoben, schlug eine von uns vor, die Lektionen des Tages
       zu wiederholen. In tadelloser Reihe vor unseren Betten, die Arme gerade am
       Körper, vor uns ein Publikum aus unsichtbaren Direktoren, stimmten wir wie
       die anderen in den Nachbarzellen die Nationalhymne an. Die Umerziehung
       begann zu wirken.“
       
       ## „Frei“ sein ist keine Freiheit
       
       Nach zweieinhalb Jahren darf sie das Lager verlassen, ohne frei zu sein.
       Haitiwaji muss in eine Art WG mit Polizisten ziehen. Und soll ihre Familie
       in Frankreich anrufen – überwacht und mit klaren Vorgaben. Sie muss ihren
       Liebsten, die dort eine Kampagne für ihre Freilassung gestartet hatten,
       Lügen erzählen und drängen, die Kampagne zu beenden. Nach zweieinhalb
       Jahren Kontaktverbot muss sie mehrmals die Woche anrufen und der Familie
       sagen, welche Social-Media-Posts sie löschen müssen. Immer wieder muss sie
       Mann und Töchter belügen.
       
       Auch [4][Tursun] kam zwischenzeitlich „frei“. Stand sie beim ersten Mal
       unter Überwachung der App eines behördlichen Handys, die ihr beim Einkauf
       schon den Zugang zu Geschäften erschwerte, bekam sie beim zweiten Mal
       „Verwandtenbesuch“. In der Zweizimmerwohnung ihrer Eltern, mit denen sie
       zusammen mit ihren Kleinkindern lebte, mussten sie zwei Polizisten
       aufnehmen und versorgen. Ein Polizist bestand darauf, bei ihr und ihrer
       Mutter im Bett zu schlafen. Als der sie sexuell belästigte, entwickelte
       Tursun Mordgedanken.
       
       Etwas Ähnliches muss sich bei der alleinerziehenden Nachbarin abgespielt
       haben. Den Geräuschen nach zu urteilen, die Tursun hörte, vergewaltigte der
       Polizist erst die achtjährige Tochter. Einige Tage später fiel er über die
       Frau her. Die erstach ihn mit einem Messer.
       
       Die Berichte von Tursun und Haijiwati zeigen, wie Chinas Botschaften auch
       im Ausland chinesische und vor allem uigurische Staatsbürger überwachen und
       wie offenbar wichtig es für Peking ist, kritische Berichte im Ausland zu
       unterdrücken. Das Regime ist also mitnichten gegen Kritik immun.
       
       Deshalb sind die beiden Bücher so wichtig. Dabei fühlen sich die beiden
       Frauen – Tursun lebt heute in Washington, Haitiwaji in Paris – immer noch
       nicht richtig frei, sondern weiterhin von Peking überwacht und
       diskreditiert. Für das Regime sind sie Lügnerinnen. Schließlich habe man
       von ihnen Geständnisse und Erklärungen, in denen sie sich für die gute
       Behandlung bedankten. Aus den Büchern wird deutlich, wie die mutigen Frauen
       dazu gezwungen wurden.
       
       25 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Menschenrechtsverletzungen-in-China/!5735542
   DIR [2] /Human-Rights-Watch-zu-China/!5655416
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sven Hansen
       
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