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       # taz.de -- Ukraine-Krieg als Zäsur: Zeitenwende
       
       > Die politische Kernschmelze in Moskau ist ein tiefgreifender Einschnitt.
       > Eine veränderte Ostpolitik war seit Jahren überfällig.
       
   IMG Bild: Man hat sich von ihm täuschen lassen: Für Wladimir Putin wurde in Berlin im Juni 2012 der rote Teppich ausgerollt
       
       Seit Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag die Maske fallen ließ,
       war klar: Der Krieg ist nicht mehr aufzuhalten. Man hat sich systematisch
       täuschen lassen. Den Mahnern, die seit Jahren für eine Kehrtwende in der
       Ostpolitik kämpften, gab man keine Chance. Entspannung first. Bloß keinen
       Konflikt mit Russland. Jetzt ist nicht nur die europäische Friedensordnung
       Geschichte. Der Krieg in der Ukraine wird alles auf den Kopf stellen.
       
       Unabhängig von dem Albtraum, der nicht nur die Ukraine betreffen wird,
       bleibt die Frage, warum eine effektivere Strategie gegen Putins
       Eskalationsdominanz nie eine Chance bekommen hat. Spätestens seit Putins
       Geschichtsessay im Juni 2021 warnen Experten vor seiner [1][zerstörerischen
       Ukraine-Politik]. In jenem Text zog der russische Präsident offen die
       Eigenstaatlichkeit der Ukraine in Zweifel und subsumierte sie zusammen mit
       Belarus unter das Dach Russlands.
       
       Der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel hat auf die fatale
       Verbindung politischer und historischer [2][Ziele des Kremls hingewiesen]:
       „Auf Basis dieser – nicht akzeptablen und falschen – Interpretation der
       Geschichte könnte er versuchen, Annexionen zu legitimieren. Putin könnte
       dabei in einem Geschichtsverständnis gefangen sein, in dem er einen
       möglichen Krieg gegen die Ukraine als interne Angelegenheit betrachtet.“
       
       Reihenweise ist man auf Russlands Behauptung hereingefallen, es ginge nur
       um die Osterweiterung der Nato sowie den Beitritt der Ukraine. Es ging
       Putin um mehr. Seit 2014 stand die Angst des russischen Präsidenten vor
       demokratischen Prozessen im Raum, wie der estnische Sicherheitsexperte
       Kalev Stoicescu betonte: „Russland möchte sich, wie im Kalten Krieg, mit
       nichtdemokratischen Ländern oder Ländern umgeben, die es unter Kontrolle
       hat.“ Die Ukraine spielt im Transformationsprozess der postsowjetischen
       Länder eine Sonderrolle.
       
       ## Psychologische Kriegsführung gegen die Ukraine
       
       Neben den baltischen Ländern ist sie das Land, das sich am ehesten zu einer
       demokratischen Struktur und dem Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen
       verpflichtet hat. In Russland fragen sich die Bürger, warum ihnen solche
       Errungenschaften vorenthalten werden. Putin konnte eine erfolgreiche
       Ukraine nicht dulden. Es ist ein Manko der deutschen Öffentlichkeit, dass
       die hybride Kriegsführung mit Hackerangriffen und gezielten
       Desinformationskampagnen über Jahre nicht recht ernst genommen wurde.
       
       Die psychologische Kriegsführung gegen die Ukraine mit anonymen
       Bombendrohungen gegen Schulen nahm kontinuierlich zu. Über [3][1.000
       Schulen wurden im letzten Jahr systematisch im ganzen Land bedroht.] Aber
       auch aus dem Hacker-Angriff auf den Deutschen Bundestag zog man keine
       klaren Konsequenzen. Hinter dem Mantra, Diplomatie sei besser als Krieg,
       verbarg sich von Anfang an eine Unentschlossenheit. Die Debatte um
       Waffenlieferungen hatte etwas Hilfloses. Der Bezug zur Geschichte
       Deutschlands, um die hartnäckige Weigerung der Bundesregierung zu
       begründen, war von Anfang an eine feige Ausrede.
       
       Unsere Nachbarn rieben sich die Augen. Erst hatte man im Zweiten Weltkrieg
       die Ukraine zerstört, Millionen Zwangsarbeiter versklavt, und jetzt schaut
       man zu, wie sich erneut die Friedhöfe füllen. Ein polnischer Witz sagt,
       dass die Deutschen, wenn es ernst wird, lieber eine Kerze ins Fenster
       stellen, als ernsthaft am Überleben beziehungsweise der Verteidigung der
       Opfer interessiert zu sein. Das Grundproblem ist aber ein anderes. Seit
       Jahren hat man sich von Seiten der Bundesregierung gescheut,
       [4][wirkungsvollere Hebel] in die Hand zu nehmen.
       
       Zu lange hat die Große Koalition auf ein fortgesetztes Konzept der
       Einhegung Russlands gesetzt und den wirtschaftlichen Profit im
       Russlandgeschäft nicht gefährden wollen. Diese Politik [5][gilt seit Langem
       als gescheitert]. Die mühselige und im Ausland nicht nachvollziehbare
       Debatte um Nord Stream 2 war blamabel. Die bequeme deutsche Äquidistanz zu
       den Konfliktparteien sowie das Primat der Wirtschaftsinteressen kam als
       Zeichen der Unterstützung Moskaus an.
       
       ## Knackpunkt in Europa: Mittelstreckenraketen
       
       Containment und Kooperation ist immer die Basis gelingender
       Sicherheitspolitik. Was die Kooperation betrifft, hätte es tatsächlich viel
       zu verhandeln gegeben. Wenig Aufmerksamkeit bekamen beispielsweise die
       Wiener Dokumente, deren Schlupflöcher den Missbrauch von Großmanövern
       erlaubten. Die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen Russlands
       westlich des Urals bleibt ungeklärt. Nicht zuletzt mit Blick auf die Jahre
       nach der Amtszeit Joe Bidens könnte dies noch ein Knackpunkt in Europa
       werden.
       
       Schon jetzt stehen russische Nuklearraketen mit Reichweiten bis Warschau
       und Berlin (und vermutlich auch Paris) in Kaliningrad an der Ostsee. Auch
       innerhalb der EU gab es Klärungsbedarf, worauf der Osteuropa-Experte
       Wilfried Jilge [6][seit Langem hinweist]: Es gibt keine Antwort auf das
       russische Dominanzstreben im Schwarzen Meer. Ein besseres Containment kommt
       zu spät. Dabei geht es nicht nur um Verteidigungsfragen. Über Jahre wollte
       man keine effizienteren Sanktionen in Deutschland und der EU beschließen.
       
       Das Mantra der Diplomatie ohne Vorbedingungen war die Blaupause, auf der
       Putin seine Planung ausbauen konnte. Man hat nicht auf die gehört, die
       stärkere Druckmittel in Verbindung mit Diplomatie gefordert haben.
       Gewaltakte und Missachtungen ohne Sanktionen ermutigen Wiederholungstäter.
       Die Sanktionsschraube hätte fester gedreht werden müssen nach einer
       wirkungsvollen Phase 2015. Sanktionen haben sehr wohl ihre Wirkung, wie der
       Russlandexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Janis Kluge, immer
       wieder erklärte.
       
       Und man hat die russischen Okkupationen in Transnistrien und Abchasien
       nicht [7][in einem Grundmuster mit der Ukraine sehen wollen]. Welche
       weitreichenden Konsequenzen der Krieg in der Ukraine haben wird, ist
       unabsehbar. Aber es ist klar, dass wie 2001 längst eine Zeitenwende
       stattgefunden hat. Wir haben sie bloß nicht rechtzeitig wahrhaben wollen.
       
       25 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2021/7/revisionismus-und-drohungen/
   DIR [2] https://www.lmu.de/de/newsroom/newsuebersicht/news/interview-zur-ukraine-krise-gefaehrliches-geschichtsbild.html
   DIR [3] https://www.rferl.org/a/urkaine-bomb-scares-russia/31672638.html
   DIR [4] https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A69_DeutschUkrainischesVerhaeltnis.pdf
   DIR [5] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-3004/html
   DIR [6] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/antagonismen-in-der-nachbarschaft-der-europaeischen-union-3-all
   DIR [7] https://www.bpb.de/veranstaltungen/veranstaltungskalender/505112/russland-krise-wird-moskau-in-der-ukraine-eskalieren/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marcus Welsch
       
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