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       # taz.de -- Ukrainekrieg und Kirchen in Berlin: Wohngemeinschaft im Glauben
       
       > In Berlins Kirchen wird es auch wieder voller. So hat in der
       > evangelischen Nathanael-Kirche die ukrainisch-orthodoxe Gemeinde einen
       > Platz gefunden.
       
   IMG Bild: Ein Gottesdienst in der Nathanael-Kirche, nach ukrainisch-orthodoxem Ritus
       
       Wenn an Sonntagen der evangelische Gottesdienst gefeiert wird in der
       evangelischen Nathanael-Kirche am Grazer Platz, sind nur die ersten fünf
       Reihen besetzt. Zwei Stunden später aber wird es rappelvoll. Um 12 Uhr
       versammelt sich die ukrainisch-orthodoxe Kirchengemeinde in dem Gebäude zum
       Gottesdienst. Die 550 Plätze reichen manchmal nur, weil nicht alle Gäste
       gleichzeitig kommen.
       
       Die Situation in dieser Schöneberger Kirchengemeinde ist symptomatisch für
       das christliche Leben in Berlin.
       
       [1][Die evangelische und die katholische Kirche verlieren Mitglieder]. Die
       Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz gibt ihren
       Mitgliederverlust 2021 mit 30.000 an. 860.000 Mitglieder hat sie noch,
       davon 506.000 in der 3,7 Millionen Einwohner zählenden Stadt Berlin.
       
       Jahr für Jahr treten in Berlin rund 10.000 Menschen aktiv aus der
       evangelischen Kirche aus, und noch mehr Mitgliederverluste entstehen, weil
       mehr Kirchenmitglieder sterben als es Taufen gibt.
       
       Auch wenn Berlin ein gutes Pflaster für ein konfessionsloses Leben ist,
       heißt das aber nicht, dass christliches Leben aus der Hauptstadt
       verschwindet. Mit der Zuwanderung hat Berlin auch viele Menschen gewonnen,
       die Christen sind, oft orthodoxe Christen, und die sich meist in eigenen
       Gemeinden organisieren. Denn für Gottesdienste ist Sprache ein wichtiger
       Faktor genauso wie es traditionelle Riten sind.
       
       Mit der Flucht aus der Ukraine wächst gegenwärtig die Zahl
       ukrainisch-orthodoxer Christen. Den besonders wichtigen Ostergottesdienst
       hätten zwischen 3.500 und 4.000 BesucherInnen in Berlin besucht, sagt
       Andriy Ilin. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Vereins Ukrainische
       Orthodoxe Kirchengemeinde e. V. Der Verein hat sich 2015 gegründet, weil,
       so Ilin „viele Gläubige wegen des Krieges in der Ostukraine nicht mehr in
       die russisch-orthodoxe Kirche gehen wollten“. Denn der Einfluss des
       russischen Staates auf diese Kirche sei groß, im Gottesdienst wurde für
       Putin und seine Soldaten gebetet.
       
       Ihre Gottesdienste feierte die neu gegründete Gemeinde zuerst in der
       evangelischen Dorfkirche in Hermsdorf. Doch die wurde schon lange vor der
       aktuellen Krise in der Ukraine viel zu klein. Andriy Ilin: „So entstand der
       Gedanke, eine eigene Kirche zu bauen.“ Der Verein interessierte sich für
       ein Grundstück in Wilmersdorf, wollte dieses pachten und danach Spenden
       unter den Mitgliedern sammeln. Dann kam der Krieg.
       
       Seitdem, sagt Ilin, habe er keine Zeit mehr für eine Grundstückspacht und
       auch die Spendengelder werden gerade für andere Zwecke benötigt: für
       Schlafsäcke, Isomatten, Baby- und Büchsennahrung, die die Gemeinde in
       großer Zahl in die Ukraine schickt. Und die sie, bevor die Reisebusse und
       Lastwägen sie dorthin mitnehmen, auch in der Nathanael-Kirche am Grazer
       Platz lagert.
       
       Dass die Kirchenbänke rappelvoll sind, sieht der evangelische Pfarrer
       Thomas Lübke gelassen. „Den lieben Gott wird das mehr freuen als eine
       ordentlich aufgeräumte Kirche.“ Das Kirchgebäude liege als Spendenlager
       geradezu ideal, sagt er der taz. „Es gibt Zufahrten und Parkplätze für
       große Reisebusse und Lkws.“ Doch auch, dass das Zwischenlager eine Kirche
       sei, hätte sich als Glück erwiesen, so Lübke. „Der ukrainische Priester ist
       viel mit Weihwasser unterwegs. Weihwasser spielt bei Ukrainern eine große
       Rolle. Die Fahrer der Fahrzeuge mit den Spenden bitten auch mich, ihre
       Fahrzeuge damit zu segnen, damit sie sicher durch die Ukraine kommen.“
       
       Beide Gemeinden haben sich auf ein langfristiges Miteinander eingerichtet.
       Sie wollen eine bewegliche Ikonostase für den orthodoxen Gottesdienst
       kaufen. Das ist eine mit Ikonen geschmückte Wand mit zwei Türen, die den
       Altarraum vom Kirchenschiff trennt. Ilin beschreibt die Kooperation mit der
       evangelischen Gemeinde als produktiv. „Bis wir irgendwann vielleicht eine
       eigene Kirche bauen, bleiben wir dort. Wir kommen sehr gut miteinander
       klar.“
       
       Der Mitgliederverlust in der Evangelischen Kirche führt dazu, dass bereits
       mehrere Kirchengebäude wenig ausgelastet sind oder aber nicht mehr genutzt
       werden. Gegenwärtig sucht die Landeskirche laut ihrer Sprecherin Charlotte
       Kielmansegg für die Erlöserkirche am Wikingerufer am Tiergarten eine
       Nachnutzung. Da ist es eine Win-win-Situation, wenn zugewanderte
       ChristInnen solche Gebäude nutzen können. Die
       St.-Johannes-Evangelist-Kirche in der Auguststraße in Mitte wurde 2017
       einer syrisch-orthodoxen Gemeinde als Dauerleihgabe übergeben. Eritreische
       Christen teilen sich seit 2014 die Philippus-Kirche in Friedenau mit der
       dortigen evangelische Kirche.
       
       Für Brandenburg beschreibt Dagmar Apel, die landeskirchliche Pfarrerin für
       Integration und Migration, eine andere Tendenz als für Berlin. Hier würden
       sich zugewanderte ChristInnen oft den evangelischen Gemeinden anschließen,
       auch wenn sie eigentlich nicht evangelisch sind.
       
       Aber die kleine Zahl von Gläubigen sowie der Mangel an muttersprachlichen
       Priestern mache das oft zu einer praktikablen Lösung. Zu besonderen
       Anlässen wie Ostern und Weihnachten fahren dann allerdings viele zu den
       muttersprachlichen Gottesdiensten nach Berlin. In Städten wie Jüterbog,
       Cottbus oder Neuruppin hätten christliche Gemeinden Willkommensprojekte ins
       Leben gerufen.
       
       8 Jun 2022
       
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