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       # taz.de -- Ukrainische Studierende im Krieg: Erwachsene Ansprechpartner gesucht
       
       > Nach Jahren der Pandemie und des Krieges wird in ukrainischen Unis wieder
       > in Präsenz unterrichtet. Doch die Studierenden brauchen mehr als
       > Seminare.
       
   IMG Bild: Zerstörte Schule in Charkiw, Mai 2022
       
       Odessa taz | Vor Beginn des neuen Studienjahres hatte ich ein Angebot der
       Universität Odessa angenommen, dort als Dozentin zu arbeiten. Ich werde
       künftig also meine Arbeit als Chefredakteurin mit der Lehre an der Fakultät
       für Journalismus verbinden. Seitdem werde ich immer häufiger gesiezt. Das
       ist für mich etwas ungewohnt.
       
       In diesem Jahr gehen die Studierenden erstmals wieder zum Studieren in die
       Uni. Während der Pandemie und dem großen Krieg liefen alle Veranstaltungen
       nur online. In meiner Seminargruppe sind über 30 Leute. Ich spreche mit
       ihnen auch über meine beruflichen Erfahrungen, denn ich arbeite seit 15
       Jahren als Journalistin, das heißt, einen großen Teil meines Lebens.
       
       Viele der Studierenden kommen aus Städten, die man als „Hotspots“ auf der
       ukrainischen Landkarte bezeichnen kann. [1][Cherson], Charkiw,
       Saporischschja – Städte und Regionen, die täglich unter Beschuss der
       russischen Armee sind. Deswegen reden wir während der Seminare nicht nur
       über Unterrichtsinhalte, sondern auch über ihre persönlichen Gefühle, ihre
       Angst und ihren Schmerz, über all das, was diese jungen Menschen zu
       bewältigen haben. Während des Luftalarms gehen wir zusammen in den
       Schutzraum und setzen den Unterricht dort fort.
       
       Einmal sprachen wir über die Kunst einer der schwierigsten journalistischen
       Gattungen, des Interviews. Als Beispiel hatte ich ihnen ein Interview
       mitgebracht, das ich mit einem jungen Genie geführt hatte. Dieser junge
       Mann – zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war er vierzehn Jahre alt – hatte
       einen speziellen Stadtplan für Menschen mit Sehbehinderung entwickelt, der
       ihnen half, sich in der Stadt zurechtzufinden.
       
       Der nicht besonders redselige junge Mann namens Borja beherrschte fünf
       Sprachen und hatte mit seiner Erfindung zahlreiche Wettbewerbe gewonnen.
       Aber es war ihm sehr unangenehm, darüber zu sprechen. Ich erklärte den
       Studierenden an diesem Beispiel Techniken, mit denen man sogar so einen
       Menschen zum Erzählen bringen kann.
       
       Nach der Stunde schaute ich in meinen Newsfeed und sah, dass Borja gerade
       gefallen war, bei einem Kampfeinsatz. Als er volljährig geworden war, hatte
       sich dieser Junge, der noch so viel im Leben hätte erreichen können, als
       Freiwilliger an die Front gemeldet, um seine Heimat gegen die Besatzer zu
       verteidigen.
       
       Als ich das Angebot annahm, als Dozentin an der Journalismus-Fakultät zu
       arbeiten, hatte ich gedacht, dass ich Studierenden fachliche Kompetenzen
       vermitteln könne. Aber es zeigte sich, dass sie nicht nur Wissen brauchen,
       sondern auch den psychologischen Beistand eines erwachsenen Menschen. Fast
       alle diese jungen Leute waren zum Studium nach Odessa gekommen, weil es
       hier weniger gefährlich ist als in ihren Heimatstädten. Aber dort sind ihre
       Eltern zurückgeblieben.
       
       Einige Väter sind an der Front, Männer, die bis vor Kurzem noch als
       Manager, Juristen und Lehrer gearbeitet hatten. Und ich schätze, dass ich
       quasi der Ersatz für diese Erwachsenen bin, mit denen man über die Dinge
       sprechen kann, die einen beunruhigen. Einige dieser Studierenden könnten
       selber Helden und Heldinnen von Interviews werden.
       
       Vika zum Beispiel, Studentin im ersten Semester, erzählte, wie sie während
       der Zeit der russischen Besatzung in Saporischschja mit Freunden zusammen
       Nägel auf die Straßen gestreut hatten, um die Reifen der russischen
       Militärfahrzeuge zu zerstören. Das Mädchen ist gerade 17 Jahre alt. [2][In
       diesem Alter sollte man Geschichten über die erste Liebe erzählen].
       
       Im ukrainischen Bildungssektor gibt es derzeit einen großen Mangel an
       Lehrkräften. Aus Angst um das eigene Leben haben viele Fachkräfte das Land
       verlassen, andere sind an der Front. Weil ich das weiß, konnte ich das
       Angebot der Universität nicht ablehnen, trotz eines Monatsgehaltes von
       umgerechnet nur 85 Euro. Das ist sehr wenig. Aber ich verstehe gut,
       [3][dass die Jugendlichen ja trotzdem lernen wollen], anständige Menschen
       und gute Fachleute werden müssen und ein Recht auf Bildung haben.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] 
       
       Finanziert wird das Projekt von der [5][taz Panter Stiftung].
       
       Ein Sammelband mit den Tagebuchtexten aus dem Jahr 2022 ist im Verlag
       [6][edition.fotoTAPETA] erschienen.
       
       16 Nov 2023
       
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   DIR [5] /!vn5941022/
   DIR [6] https://www.edition-fototapeta.eu/
       
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