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       # taz.de -- Ultraorthodoxe in Israels Armee: Israels Streit-Kräfte
       
       > Ultraorthodoxe absolvierten bislang selten den Militärdienst. Viele
       > meinen, die Armee sei zu liberal und zu „woke“, doch nun werden sie
       > einberufen.
       
   IMG Bild: Soldaten des Netzah-Yehuda-Bataillons bei einer Vereidigungszeremonie im Juli dieses Jahres an der Klagemauer in Jerusalem
       
       Jerusalem taz | Wenn Eliyahu Chait zu sprechen beginnt, blitzen seine
       leuchtend blauen Augen regelrecht. Der Rücken gerade, die Stimme ruhig, die
       Finger entspannt – was er sagt, ist kontrovers, doch Chait ist sich seiner
       Sache sicher: „Warum“, fragt er, „muss sich ein gläubiger, orthodoxer
       Soldat eine einstündige Lektion über die Rechte von LGBTQ-Personen
       anhören?“ Und antwortet gleich selbst: „Weil das Militär geführt wird von
       Säkularen, die wollen, dass wir genauso werden wie sie.“
       
       Mit seinem gestärkten weißen Hemd, dem eleganten Anzug und der Kippa auf
       dem Kopf fällt Chait im konservativen und religiösen Jerusalem kaum auf.
       Die förmliche Kleidung und die aus dunklem Stoff gearbeitete Kopfbedeckung
       sind eine Art Uniform ultraorthodoxer Männer. Chait ist 29 Jahre alt,
       verheiratet, Vater zweier Kinder, „und ein drittes auf dem Weg“, sagt er
       stolz. Auch damit liegt er voll im Schnitt der ultraorthodoxen
       Gemeinschaft: Es ist die Bevölkerungsgruppe in Israel, deren Mitglieder die
       meisten Kinder bekommen. So weit, so typisch.
       
       Er sei aufgewachsen in einem Zuhause, das ihm beigebracht habe, alles zu
       tun für „our people and our nation“ – unser Volk und unsere Nation. „Also
       habe ich mit 18 beschlossen, meinen Wehrdienst abzuleisten“, sagt er, das
       allerdings „gegen den Willen meines Vaters“ – und die sozialen Regeln
       großer Teile seiner Gemeinschaft.
       
       Chait ist eine Ausnahme. Dass junge Ultraorthodoxe im Gegensatz zu den
       meisten anderen jungen Menschen in Israel sich dem Wehrdienst seit
       Jahrzehnten entziehen, ist schon lange ein Politikum. Heute wohl mehr denn
       je: Über 330 israelische Soldaten hat die Bodenoffensive in Gaza bisher das
       Leben gekostet. Sie kommen aus religiösen und säkularen Familien, aus der
       liberalen Metropole Tel Aviv und seinen Trabantenstädten, aus Siedlungen im
       Westjordanland oder den drusischen Dörfern im Norden des Landes – aber sehr
       viel seltener aus ultraorthodox geprägten Städten wie Bnei Brak oder Beit
       Shemesh.
       
       ## Die Entscheidung des Obersten Gerichts
       
       [1][Die Last des Krieges, so empfinden es viele, ist ungleich verteilt in
       Israel]. Und im Juni dieses Jahres beschloss das Oberste Gericht Israels,
       mit Nachdruck dagegen vorzugehen. Eine Regierungsentscheidung aus dem
       vergangenen Sommer, welche das Militär anwies, die ultraorthodoxen
       Wehrpflichtigen nicht einzuziehen, sei juristisch nicht haltbar. Ab sofort
       müsse die Regierung aktiv daran arbeiten, die jungen Ultraorthodoxen in den
       Dienst zu bringen. Doch wie integriert man sie und ihre speziellen
       Bedürfnisse in ein Militär, dass einer ganz anderen, eher säkularen Logik
       folgt?
       
       Schon seit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 müssen theoretisch alle
       jüdischen Bürgerinnen und Bürger des Staates sowie männliche Drusen und
       Tscherkessen, also Teile der arabischsprachigen Minderheit Israels, den
       Wehrdienst ableisten.
       
       Doch von Beginn an wurde streng gläubigen, sich täglich mit der Thora und
       dem jüdischen Schriftenkanon beschäftigenden Gelehrten eine [2][Ausnahme
       gewährt.] Stattdessen studieren sie in sogenannten Yeshivot – religiösen
       Studieninstituten – das Wort Gottes und bedeutender Rabbiner. Mit ihren
       Gebeten und ihrer Verbindung zu Gott, sagen sie, schützen sie Israel nicht
       mit Waffen, sondern spirituell. Wer in einer Yeshiva lernt, bekommt ein
       Jahr Aufschub für den Wehrdienst. Und wer lange genug diese jährliche
       Ausnahmebescheinigung vorlegt, altert irgendwann einfach über die
       Obergrenze für die Wehrpflicht hinaus.
       
       Zur Staatsgründung Israels waren die Ultraorthodoxen eine kleine
       Minderheit, die jüdische Gemeinschaft, so blickt etwa Chait heute zurück,
       spirituell geschwächt. Dass ein kleiner Kreis der Bürger des neuen Staates
       seine ganze Aufmerksamkeit Gott widmet und dafür auch den Raum braucht,
       habe vielen damals eingeleuchtet.
       
       ## Essen, Flirten, Verlangen
       
       Doch im Laufe der Jahrzehnte verschoben sich die Verhältnisse:
       Ultraorthodoxe Familien sind reich an Kindern, ihr Anteil an der
       Bevölkerung wächst stetig. Mit der Shas und dem Vereinigten Thora-Judentum
       sitzen heute zwei Parteien, die sie politisch vertreten, mit in der
       Regierung. Ihre Macht – allein durch die schiere Größe der Gemeinschaft –
       wächst. Nicht aber, so die Kritik vieler Säkularer und Liberal-religiöser,
       ihr Verantwortungsgefühl für den Staat Israel und all die verschiedenen
       Menschen, die in ihm leben.
       
       Um dieser Verantwortung nachkommen zu können, erzählt Chait, habe er „stark
       sein müssen“. Sein Vater führe eine Yeshiva in Beit Shemesh, wo Chait und
       seine Familie leben. Als der Sohn als 18-jähriger dem Vater im Jahr 2013
       eröffnete, dass er zum Militär gehen wolle, sei der in großer Sorge
       gewesen. Nicht nur angesichts der latent lauernden Gefahren, die mit dem
       Dasein als israelischer Soldat einhergehen. „Mein Vater nahm mich zur Seite
       und sagte: Überleg es dir noch einmal. Du wirst allem Möglichen begegnen,
       vor dem wir dich bisher geschützt haben.“
       
       Die möglichen Gefahren: Essen, das nicht der strengen
       Koscher-Zertifizierung der ultraorthodoxen Gemeinde entspricht. Dienst am
       Schabbat. Keine Zeit für das lange morgendliche Gebet, bei dem der Tefillin
       – ein langer Lederriemen mit einer Gebetskapsel, die handgeschriebene Texte
       aus der Thora enthält – um den Arm geschlungen und am Kopf befestigt wird.
       Junge säkulare Frauen. Flirten, Verlangen, Sex vor der Ehe. Menschen, die
       schwul sind, bisexuell oder queer.
       
       ## Das Bataillon, die Gewalt
       
       „Er war in Sorge“, sagt Chait: Was wird aus meinem Sohn? Im August 2013
       unterschrieb er dennoch seinen Einberufungsvertrag mit dem israelischen
       Militär und wurde Teil des Netzah-Yehuda-Bataillons.
       
       Das Bataillon ist eine Art Kompromisslösung der Streitkräfte: Die
       Anwesenheit von Soldatinnen in dessen Unterkünften und Militärbasen ist
       untersagt. Alle Nahrungsmittel entsprechen den Ansprüchen der Gemeinschaft.
       Einen Samstagsdienst gibt es nicht. Und weil ihre Integration in die
       normalen Abläufe des Militärs dadurch so kompliziert ist, dienten sie lange
       vor allem im Westjordanland. Bis die gesamte Einheit Ende 2022 verlegt
       wurde, in den Norden Israels und auf die Golanhöhen. Der Grund: Ausufernde
       Gewalt gegen Palästinenser und zahlreiche Rechtsverstöße. Im April erwog
       die [3][Regierung von US-Präsident Joe Biden deshalb Sanktionen] gegen das
       Bataillon.
       
       Als Chait diente, war diese Entwicklung noch in weiter Ferne. Er habe sich
       gut gemacht im Militär, erzählt er: „Ich war jung. Ich war physisch fit“.
       Nach dem Ende seines Dienstes im Netzah-Yehuda-Bataillon baten ihn seine
       Vorgesetzten, zu bleiben, „Sergeant Commander“ zu werden. Chait lehnte ab.
       Denn ein Aufstieg in den Rängen bedeutet, das Bataillon, in dem auf seine
       Bedürfnisse und die Auslegung seines Glaubens Rücksicht genommen wird, zu
       verlassen.
       
       „Man muss stark sein“, betont Chait wieder. Um bei sich zu bleiben, und der
       strengen Welt, aus der man kommt. Wer sich der Welt der Säkularen, deren
       Freiheiten im Vergleich so grenzenlos erscheinen, zu lange aussetze, werde
       irgendwann ein Teil von ihr. Von den jungen Männern, die mit ihm im
       Netzah-Yehuda-Bataillon dienten, sagt Chait, lebten die meisten heute „in
       Tel Aviv“. Aus seinem Mund klingt der Name der Stadt beinahe wie ein
       Schimpfwort.
       
       Und wer sich umhört, in den hippen Bars im Tel Aviver Viertel Florentin,
       oder unter den bunten Sonnenschirmen am Stadtstrand, der stellt fest: Auch
       „Beit Shemesh“ oder gar „Jerusalem“ kann eine Art Schimpfwort sein.
       Sicherlich aber ein Synonym für eine andere Welt.
       
       ## Der Graben zwischen säkular, liberal und religiös
       
       Der Graben zwischen den säkularen, liberalen Israelis auf der einen Seite
       und den Religiösen auf der anderen Seite wächst: Die einen werden, so wie
       große Teile der westlichen Welt, immer liberaler. Und die anderen besinnen
       sich mit Strenge auf die Tausende Jahre alten, unveränderlichen und immer
       mehr aus der Zeit gefallen scheinenden Regeln ihres Gottes: „Seitdem Gott
       uns die Torah am Berg Sinai geschenkt hat, halten wir Juden Schabbat. Wir
       wurden dafür verfolgt und getötet und haben uns trotzdem diese Prinzipien
       bewahrt. Und dann kommt ein liberaler Kommandeur der Armee und denkt, er
       könne mich und meinen Glauben ändern?“ Chaits Augen funkeln wieder
       kämpferisch, bevor er sich zurücklehnt und sagt: „Das ängstigt uns.“
       
       „Sie wollen uns assimilieren“, sagt Chait in Jerusalem. „Sie blicken auf
       uns als Sünder herab“, sagt einer am Strand von Tel Aviv.
       
       Den Ultraorthodoxen wird immer wieder unterstellt: Dem Wehrdienst entzögen
       sie sich aus Faul- und Feigheit. Dabei waren es gerade am 7. Oktober –
       einem Samstag, Schabbat – viele Orthodoxe, die ihren Tag der Ruhe
       unterbrachen, um mit der Such- und Rettungsorganisation ZAKA die vielen
       Verletzten und Toten zu bergen, teils unter Gefahr für ihr eigenes Leben.
       Dass die Organisation dabei wohl auch falsche Berichte verbreitete, die
       fürchterlichen Szenen in den Gemeinden nahe Gaza noch ausschmückte,
       übertrieb und teils sogar log, trübt die Erinnerung an ihren doch mutigen
       Einsatz.
       
       Seit dem 7. Oktober befindet sich Israel in dem wohl intensivsten Krieg
       seiner jüngeren Geschichte. Sein Militär geht in Gaza mit großer Härte vor,
       die Offensive ist vor allem für die palästinensische Zivilbevölkerung mit
       großem Leid verbunden. Die Hisbollah-Miliz schießt aus dem Libanon Raketen
       und Drohnen über die Grenze im Norden. In Israel kommt der Ruf nach einer
       Bodenoffensive, die die Miliz aus dem südlichsten Teil des Libanon
       zurückdrängen soll, immer wieder auf. Im Westjordanland gewinnen die Hamas
       und andere radikalislamische Kräfte im Schatten des Gaza-Krieges, der
       [4][anhaltenden Siedlergewalt] und durch bewusstes Anfeuern seitens des
       Iran immer mehr an Stärke. Und die Einsätze des Militärs waren dort in der
       vergangenen Woche so massiv wie lange nicht.
       
       [5][Armeechef Herzi Halevi] betont: Es gäbe einen „klaren Bedarf“ an mehr
       Soldaten, die aus der Gemeinschaft der Ultraorthodoxen rekrutiert werden
       sollen. Dabei gibt das Militär selbst zu, wie schwierig es ist, sie zu
       integrieren.
       
       ## Sie finden, Staat und Militär seien nicht religiös genug
       
       Effi Kolatsch ist heute etwa im selben Alter wie Chait. Während jener sich
       trotz aller Widerstände und eigener Bedenken als 18-Jähriger zum Wehrdienst
       meldete, ging Kolatsch damals den Weg der meisten: Er studierte die Thora
       in einer Yeshiva, schob den Dienst auf, bis er die Altersgrenze von damals
       26 Jahren erreichte. Über seine Gemeinschaft sagt er: „Wir gehen nicht zum
       Militär, weil es uns nicht religiös genug ist, so wie der ganze Staat
       Israel“. Und: Die „woke“, progressive Agenda der liberalen linken Eliten
       tröpfele durch die Gesellschaft hindurch bis ins Militär.
       
       Israels Streitkräfte setzen, das betonen sie selbst, auf die Integration
       von Frauen in jedem Bereich: Etwa 90 Prozent aller Positionen im Militär
       können heute auch mit Frauen besetzt werden. Die Zahl der weiblichen
       Mitglieder von kämpfenden Bataillonen ist allein zwischen 2013 und 2017 um
       350 Prozent gestiegen. Die jungen Wehrdienstleisterinnen beraten in der
       Personalabteilung, unterrichten junge Männer im Schießen und bekleiden, so
       sie beim Militär bleiben, immer höhere Positionen. Ihnen dort nicht zu
       begegnen, ist kaum möglich. Doch in der ultraorthodoxen Gemeinschaft haben
       die Lebenswelten von Männern und Frauen, so sie nicht verheiratet sind, nur
       wenige Berührungspunkte.
       
       Die Entscheidung, nicht zu dienen, erzählt Kolatsch, habe er bereut: „Ich
       hatte das Gefühl, meinen israelischen Mitbürgern nicht denselben Dienst
       geleistet zu haben.“ Das holt er nun auf seine Art nach: Das israelische
       Militär hat bereits vor einer Weile ein Programm aufgelegt für
       ultraorthodoxe Männer über der Altersgrenze des Wehrdienstes. In einer
       eigenen Einheit erhalten sie einige Wochen lang Training und werden dann
       Teil der Reserve, wie die meisten Wehrdienstleistenden nach Ende ihres
       Dienstes. Sie sollen danach vor allem ihre eigenen Gemeinden im Notfall
       verteidigen können, sagt Kolatsch. Momentan habe er alle Hände voll zu tun,
       erzählt er. Immer mehr Männer aller Altersstufen seien an dieser Art des
       Dienstes interessiert.
       
       Doch dem Obersten Gericht reichen solche Initiativen nicht. Mitte Juli
       sendet das Militär die ersten Einberufungsbefehle an die ultraorthodoxe
       Gemeinschaft. 3.000 sollen es in dieser Einberufungsperiode sein, in drei
       Wellen von je 1.000 Wehrbefehlen.
       
       Einfach akzeptieren wollen viele Ultraorthodoxe die neue Realität nicht.
       [6][Sie protestieren, immer wieder.] Bilder zeigen ein Meer aus Männern in
       Anzügen und Hemden, teils mit den typischen hohen Hüten der Gemeinschaft
       und den langen Schläfenlocken. Die Polizei setzt Wasserwerfer und berittene
       Beamte ein, oft gibt es gewalttätige Zusammenstöße zwischen der Polizei und
       den Demonstrierenden. Etwa Ende August in Jerusalem, als insgesamt fünf
       Männer der Gemeinschaft festgenommen werden.
       
       Während es unter ihnen einen harten Kern gibt, der Israel als
       nicht-religiösem Staat sogar das Existenzrecht per se abspricht – obwohl
       die religiösen Juden, die dieser Ansicht anhängen, selbst in ihm leben –,
       sind andere kompromisswillig. So wie Chait und auch Kolatsch: Wenn das
       Militär die Bedürfnisse ihrer Gemeinschaft besser erfülle, seien sie mehr
       bereit, zu dienen. Würde man ihren Wünschen nachkommen, sähen wohl die
       gesamten Streitkräfte aus wie das Netzah-Yehuda-Bataillon. Folgen hätte das
       vor allem für die Frauen und für die kleine Minderheit der nicht-jüdischen
       Soldaten.
       
       Das israelische Militär bemüht sich, den verschiedenen Vorstellungen der
       Bürgerinnen und Bürger seines Landes gerecht zu werden: So gibt es neben
       dem Netzah-Yehuda-Bataillon für die Ultraorthodoxen etwa auch eines, das
       die arabische Gemeinschaft Israels in das Militär integrieren soll. Dort
       dienen vor allem junge beduinische Muslime. Neben dem standardmäßigen
       Training erhalten sie etwa auch Hebräisch-Unterricht und sollen so besser
       in die israelische Gesellschaft integriert werden.
       
       Auch, dass gefallene Soldaten nach christlichem oder muslimischem Ritus
       beerdigt werden können, macht das Militär möglich. Und während es keinen
       eigenen Militärpfarrer oder -Imam gibt, bemüht sich das Militärrabbinat um
       Vermittlung von Ansprechpartnern, betont es selbst. Den Besuch der Moschee
       am Freitag oder der Kirche am Sonntag versuche man den Soldatinnen und
       Soldaten zu ermöglichen, so das Rabbinat.
       
       ## Debatten um Einberufung
       
       Eine Diskussion, wie um die Einberufung der Ultraorthodoxen, gibt es auch
       über die muslimischen und christlichen arabischen Staatsbürgerinnen. Das
       Militär bemüht sich – mit einigem Erfolg –, gezielt dort Freiwillige für
       den Wehrdienst anzuwerben. Irgendwann könnte der Dienst auch für sie
       verpflichtend werden.
       
       In einem Militär, das alle jungen israelischen Bürgerinnen und Bürger
       einzieht, zeigt sich neben der Vielfalt der Menschen Israels auch, wie
       schwierig deren Vorstellungen und Wertesysteme teils zu vereinen sind.
       Zumindest auf Ebene der gesamten Streitkräfte können diese entweder den
       strengen religiösen Vorschriften der Ultraorthodoxen gerecht werden oder
       den feministischen Ansprüchen des liberalen Teils der Gesellschaft. Damit
       steht das Militär symptomatisch für ein wachsendes Problem im Land: Wohin
       bewegt sich Israel, wenn Teile seiner Bürgerinnen und Bürger in
       gegensätzliche Richtungen driften und sich immer weniger begegnen?
       
       „Man wächst in der einen Welt auf“, sagt Chait, „und wird mit dem Eintritt
       in das Militär in eine genau gegensätzliche geworfen“. Das Militär müsse
       die Bedürfnisse seiner Gemeinschaft nicht perfekt erfüllen, das sei kaum
       möglich. „Aber es muss mir zeigen, dass es mich respektiert. Dass es mir
       zuhört, und dass es mir entgegenkommt.“
       
       Und selbst wenn das Militär etwa eine strenge Geschlechtertrennung
       durchsetze, bleibe weiter ein Problem, sagt er: Wer kein Wasser trinkt, der
       stirbt. Und wer spirituell nicht genährt werde, verliere seinen Glauben. Je
       höher der militärische Rang, sagt Chait, desto seltener werde die Kippa
       getragen.
       
       Als er zum ersten Mal den Schabbat gebrochen habe für einen Einsatz, sagt
       Chait, habe er sich nichts mehr gewünscht als einen Vorgesetzten, der seine
       Gefühle versteht. Auch strenggläubige Juden können die Ruhe am Schabbat
       unterbrechen, wenn eine Gefahrensituation für Leib und Leben abgewendet
       werden muss. „Es war so seltsam, an einem Freitagabend mein Handy
       einzuschalten und in diesen Jeep zu steigen. Fast traumatisch.“ Und mit
       dieser Belastung, sagt er, sei er allein geblieben.
       
       Unter den jungen Männern seiner Gemeinschaft wirbt er dennoch dafür, den
       Einberufungsbefehlen nachzukommen. Mit seiner Uniform, erzählt er, laufe er
       durch seine Heimatstadt Beit Shemesh und wolle ein Vorbild sein. Auch weil
       sein eigener Vater damals, wie viele Eltern, seinen Söhnen den Wehrdienst
       verbieten wollte. Zu groß die Sorge, dass die Kinder sich vom eigenen
       Wertesystem entfernen.
       
       Doch trotz aller Schwierigkeiten sei das wichtigste für ihn seine
       Verbindung zu dem Boden Israels. „Ich bewege mich durch dieses Land mit der
       Thora. Ich erzähle meinem Sohn: Hier gewann König David gegen Goliath, ein
       kleiner Mensch, der sich einem Giganten entgegenstelle.“ Der Wunsch, Israel
       zu schützen, auch im Kampf, überdecke alles andere.
       
       1 Sep 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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