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       # taz.de -- Umfrage über Berichterstattung zu Gaza: „Klima der Angst in Redaktionen“
       
       > Katharina Weiß hat für Reporter ohne Grenzen Journalist*innen
       > befragt, die über Gaza berichten. Sie beobachtet Selbstzensur und
       > Anfeindungen.
       
   IMG Bild: Pro-Palästinensische Demontration vor der Freien Universität Berlin im Mai 2024
       
       taz: Frau Weiß, Sie haben über 60 Journalist*innen zu ihrer
       Berichterstattung über den Krieg in Gaza und seine Folgen in Deutschland
       befragt. Eine Ihrer Erkenntnisse lautet, dass sich Kolleg*innen stark
       unter Druck gesetzt fühlen, wenn sie über das Thema berichten. Was meinen
       Sie damit? 
       
       Katharina Weiß: Vor allem Reporter*innen, die die israelische Kriegsführung
       oder die Konsequenzen des Krieges auf das gesellschaftliche Klima in
       Deutschland beleuchten, berichteten uns von außergewöhnlichen Belastungen
       von außer- wie innerhalb von Redaktionen, etwa dadurch, dass ihre
       Artikelvorschläge, immer wieder abgelehnt werden.
       
       taz: Warum soll das Druck erzeugen? Im Redaktionsalltag ist es üblich, dass
       mehrere Themen miteinander konkurrieren und Angebote hintenüberfallen. 
       
       Weiß: Klar, das schreiben wir in unserer Zusammenfassung. Einige
       Erfahrungen, die uns Kolleg*innen geschildert haben, sind nicht
       ungewöhnlich. Auffallend ist aber die Häufung, in der auch sehr erfahrene
       Reporter*innen berichten, mit ihren Vorschlägen zum Krieg in Gaza nicht
       durchzudringen. Manche sprechen von Doppelstandards oder davon, dass
       journalistische Praktiken über Bord geworfen wurden, wenn es um den Umgang
       mit palästinensischen Quellen ging. Migrantische Kolleg*innen haben von
       rassistischen Vorfällen berichtet – dass sie als Hamas-Freund*innen
       bezeichnet wurden, obwohl sie nur versucht hätten, einen konstruktiven
       Vorschlag zu machen, wie die Berichterstattung ausgewogener werden kann.
       
       taz: Wie kann man sich solche Auseinandersetzungen in den Redaktionen
       vorstellen? 
       
       Weiß: Es geht etwa um etablierte Kolleg*innen, die ein weites Netzwerk mit
       palästinensischen Kontakten haben. In der Redaktion wird dann häufig die
       Befürchtung geäußert, ob die Reporter*innen garantieren können, dass
       bei ihren Gesprächspartner*innen keine Hamas-Nähe besteht. Die Stimmen
       von vor Ort werden dann auf Herz und Nieren überprüft, so gut es eben
       möglich ist, weil der Gazastreifen für die internationale Presse
       abgeriegelt ist. Ganz häufig wird dann entweder aus Unwissenheit in der
       Redaktion oder aus Angst vor extremen Social-Media-Reaktionen entschieden,
       palästinensische Perspektiven nicht miteinzubeziehen.
       
       taz: Aber es wäre ja schon wichtig zu wissen, wenn die befragten Stimmen
       Verbindungen zu der Hamas haben. 
       
       Weiß: Klar, aber nochmal: Es geht um gestandene Kolleg*innen, die seit
       Jahrzehnten im Dienst sind und die uns von einem Klima der Angst in den
       Redaktionen berichtet haben. Das muss man ernst nehmen. Sie klagten über
       endlose Abnahmeschleifen ihrer Texte, die groteske Züge angenommen hätten.
       Sie berichteten, dass sie in ihren Karrieren bei keinem Thema so eine
       Dauerprüfung ihrer Beiträge erlebt hätten. Oder dass sie etwa bei Quellen
       aus dem Libanon, aus Sudan oder aus mexikanischen Drogenkartellen den
       Check, der bei Palästinenser*innen verlangt wurde, niemals hätten
       vorlegen können. Fast alle Befragten äußerten, dass die Berichterstattung
       über den Krieg in Gaza das sensibelste Thema sei, zu dem sie je
       journalistisch gearbeitet hätten.
       
       taz: Sie betonen, dass Sie keine wissenschaftliche Studie vorgelegt haben,
       sondern eine Recherche. Wie sind Sie in Ihrer Umfrage vorgegangen? 
       
       Weiß: Wir haben nicht die finanziellen Mittel, eine groß angelegte Studie
       aufzusetzen. Ab Ende 2023 haben wir Hinweise von Journalist*innen
       bekommen, die sich mit der Berichterstattung zu Gaza und den Diskussionen
       in ihren Redaktionen unwohl gefühlt haben. Wir wollten der Sache nachgehen,
       und haben begonnen, Journalist*innen, die zu dem Thema arbeiten, direkt
       anzuschreiben. Uns war eine Gewichtung sehr wichtig: Kolleg*innen bei
       den öffentlich-rechtlichen Medien zu finden, bei den großen Privatsendern,
       Lokaljournalisten sowie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern,
       Frauen, migrantisch gelesenen und nicht migrantischen Personen
       herzustellen. Wir haben Kolleg*innen einbezogen, die schon sehr lange
       über das Thema berichten und solche, die schwerpunktmäßig über die
       palästinensische Zivilbevölkerung schreiben. Wir haben auch mehrere
       jüdische Publikationen wie die Jüdische Allgemeine angeschrieben und darum
       gebeten, dass die Kolleg*innen dort ihre Erfahrungen schildern.
       
       taz: Das klingt umfassend. 
       
       Weiß: Ja. Natürlich gibt es immer Dunkelfelder, aber wir haben ein gutes
       Gefühl, dass wir das, was wir erzählt bekommen haben, gut abbilden konnten.
       
       taz: Was haben die Kolleg*innen denn als Gründe genannt, warum sie etwa
       mit ihren Berichten zur israelischen Kriegsführung so schwer bei ihren
       Redaktionen durchdringen? 
       
       Weiß: Zum einen berichteten Journalist*innen von einer großen Furcht in
       den Redaktionen, eines israelbezogenen Antisemitismus bezichtigt zu werden.
       Diese Unsicherheit wurde häufig als Grund genannt, als heikel wahrgenommene
       Themen in der Berichterstattung auszusparen. Eine Sache, die uns bedrückt
       ist, dass einige Kolleg*innen sich auch durch häufige und massive
       Interventionen der israelischen Botschaft oder der Deutsch-Israelischen
       Gesellschaft bei Chefredaktionen unter Druck sehen. Auf der anderen Seite
       haben Redaktionen auch Angst davor geäußert, von propalästinensischen
       Aktivisten überrannt zu werden. [1][Es gab Reporter*innen, die auf
       Demonstrationen erkannt und wegen ihrer Berichterstattung angesprochen
       wurden] und die sich unter Druck gesetzt gefühlt haben.
       
       taz: Auch bei der taz haben wir Kolleg*innen, die in Zusammenhang mit ihrer
       Berichterstattung über den Krieg in Gaza angefeindet und [2][aktuell wie im
       Fall von Nicholas Potter] auch massiv bedroht werden. 
       
       Weiß: Die Kampagne gegen Potter ist eine schockierende Grenzüberschreitung
       und als Reporter ohne Grenzen fordern wir die zuständigen Behörden auf, die
       Urheber der Gewaltandrohungen zügig zu ermitteln. Egal, ob man wie Potter
       viel über Antisemitismus schreibt oder sich in anderer Form mit der Region
       Nahost beschäftigt: Unsere Umfrage hat ergeben, dass viele Kolleg*innen
       oftmals sogar für ein und denselben Artikel von zwei Seiten mit
       persönlichen Beleidigungen überzogen würden; eine stark
       Palästina-solidarische Bubble könne es nicht ertragen, jüdische
       Perspektiven zu hören oder auch nur den Begriff des Antisemitismus zu
       lesen. Wohingegen die Israel-solidarische Bubble nicht damit umgehen könne,
       wenn zum Beispiel der Blick auf die israelische Besatzungspolitik gelenkt
       würde.
       
       taz: In Ihrem Bericht schreiben Sie auch, dass Journalist*innen, die in
       ihrer Berichterstattung etwa auf die Einhaltung des Völkerrechts drängten,
       sich zur „Selbstzensur“ genötigt fühlten. Aber es gibt doch durchaus
       kritische Berichterstattung über das israelische Militär. 
       
       Weiß: Wir beurteilen als Reporter ohne Grenzen überhaupt nicht, ob die
       Berichterstattung ausgewogen war, damit haben sich andere schon viel mehr
       beschäftigt. Medienkritik gehört auch nicht zu unserem Mandat. Wir sagen
       auch nicht, dass es keine Israel-kritische Berichterstattung in Deutschland
       gibt.
       
       taz: Was meinen Sie dann mit Selbstzensur? 
       
       Weiß: Der Begriff kommt nicht von uns, viele Journalist*innen haben ihn
       in den Befragungen so geäußert. Kolleg*innen erzählten uns, dass sie
       Themen, die etwa mit einer Kritik der israelischen Regierung oder dem
       Militär verbunden sind, bewusst vermeiden. Manche befürchteten sogar einen
       Jobverlust. Andere Sorgen betrafen langwierige Quellenchecks oder
       Änderungen an Texten, die nicht mit den Autor*innen abgesprochen werden.
       Auch aus Sorge vor so einer redaktionellen Praxis äußerten Kolleg*innen
       die Angst, ihre Quellen zu vergraulen. Deshalb zogen sie für sich den
       Schluss, dieser oder jener Redaktion keine Themenvorschläge zu
       unterbreiten, was sie als Selbstzensur erlebten.
       
       taz: Was können Redaktionen tun, um andere Zugänge zu ermöglichen? Es muss
       doch darum gehen, in der Nahost-Berichterstattung den Blick zu weiten, und
       dafür ein professionelleres und konstruktiveres Arbeitsklima zu schaffen. 
       
       Weiß: Speziell auf Nahost bezogen wünschen sich viele Kolleg*innen, dass es
       in ihren Redaktionen zu einer internen Aufarbeitung kommt, mit dem Ziel,
       dieselben Fehler nicht bei künftigen so aufgeladenen Fragen zu wiederholen.
       Das Stichwort Diversität wurde hier ganz häufig genannt, also mehr Stimmen
       einzubeziehen, die fremdsprachige Medien lesen, oder bei dem Thema eine
       nicht deutsche Sozialisation haben. Viele Kolleg*innen [3][wünschten
       sich in unserer Befragung auch eine stärkere Solidarisierung
       untereinander], sowohl innerhalb von Redaktionen als auch in Fällen, in
       denen Medienschaffende von einschlägigen Publikationen an den Pranger
       gestellt werden.
       
       18 Apr 2025
       
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