URI: 
       # taz.de -- Umstrittenes EU-Überwachungsgesetz: Anlasslose Chatkontrolle abgesagt
       
       > Bürgerrechtler:innen jubeln: Das EU-Parlament will das
       > Überwachungsgesetz entschärfen. Doch auch am jüngsten Entwurf gibt es
       > Kritik.
       
   IMG Bild: Die Einigung ist ein Riesenfortschritt, sollte aber auch mit Vorsicht betrachtet werden
       
       Berlin taz | Es ist eine wegweisende Entscheidung, die der Ausschuss für
       bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des EU-Parlaments an diesem
       Dienstag treffen will: Läuft es wie geplant, wird er den Weg frei machen
       für Verhandlungen mit der EU-Kommission und dem EU-Rat über die Verordnung
       „zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“,
       bekannt geworden unter dem Schlagwort „Chatkontrolle“. Diese gehört zu den
       zuletzt am [1][kontroversesten diskutierten Vorhaben aus Brüssel].
       
       Der Entwurf der EU-Kommission sah umfassende Überwachungspflichten für die
       Anbieter von Messenger-Diensten wie Whatsapp oder Signal vor. Die Betreiber
       dieser Dienste sollen demnach unter anderem dazu verpflichtet werden
       können, die Kommunikation der Nutzer:innen auf mutmaßliche Darstellungen
       sexualisierter Gewalt an Kindern zu durchsuchen.
       
       Dabei wurden mehrere Wege diskutiert: Zum Beispiel wäre es möglich, dass
       die Anbieter von Messenger-Diensten verschickte Inhalte auf ihren Servern
       scannen. Allerdings würde das für Ende-zu-Ende-verschlüsselte
       Kommunikation, wie sie heute bei vielen Messengern Standard ist, ins Leere
       laufen. Daher stand zur Diskussion, dass die Anbieter Inhalte bereits vor
       dem Verschicken auf den jeweiligen Endgeräten der Nutzer:innen scannen.
       Auch eine Pflicht für einen Altersnachweis per Ausweis war vorgesehen.
       
       Gegen diese Pläne formierte sich im Laufe der Monate breite Kritik: So
       positionierten sich etwa bei einer [2][Anhörung im Digitalausschuss des
       Bundestages sämtliche geladenen Expert:innen ablehnend gegenüber dem
       Vorhaben] – und zwar Leute aus so unterschiedlichen Bereichen wie
       Datenschutz, Strafverfolgung und Kinderschutz.
       
       ## Kein anlassloses Scannen
       
       Die Verhandler:innen des Parlaments zu dem Gesetz entschieden nun Ende
       Oktober, das Vorhaben deutlich zu entschärfen: So soll etwa
       Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation von Überwachungspflichten
       unangetastet bleiben. Auch für den Rest der Kommunikation soll es kein
       anlassloses Scannen geben, sondern nur auf richterliche Anordnung und bei
       Personen oder Personengruppen, die im Verdacht stehen, mit Darstellungen
       sexualisierter Gewalt an Kindern in Verbindung zu stehen.
       
       Eine Pflicht zum Altersnachweis per Ausweis für Kommunikationsdienste soll
       es entgegen ursprünglicher Pläne nicht geben. Das ist deshalb relevant,
       weil mit einem Nachweis des Alters auch zahlreiche weitere persönliche
       Daten an die Diensteanbieter gegangen wären. Eine anonyme Nutzung des
       Internets wäre dann deutlich eingeschränkt worden. So hätte es etwa einen
       E-Mail-Account nur noch nach Vorlage des Ausweises gegeben.
       
       Zudem sind weitere Maßnahmen zum besseren Schutz von Minderjährigen
       vorgesehen. So soll ein neues EU-Kinderschutzzentrum öffentlich abrufbare
       Internetinhalte automatisiert nach bekannten Missbrauchsdarstellungen
       durchsuchen. Zudem ist geplant, dass Strafverfolger, die auf illegales
       Material aufmerksam werden, von dem Anbieter eine Löschung verlangen müssen
       – aktuell ist das nicht so. Anbieter, die auf eindeutig illegales Material
       aufmerksam werden, sollen zur Löschung verpflichtet werden.
       
       ## Lob von Datenschützer:innen
       
       Elina Eickstädt vom Chaos Computer Club (CCC), die auch als Expertin im
       Digitalausschuss geladen war, nennt die Einigung einen „Riesenfortschritt“.
       Sie lobt unter anderem den klaren Schutz von Ende-zu-Ende-verschlüsselter
       Kommunikation und das Kippen der Pflicht zur Altersverifikation. Doch sie
       sagt auch: „Man muss die Einigung mit Vorsicht betrachten, weil Rat und
       EU-Kommission eine andere Position haben.“ Tatsächlich hat eine Reihe von
       Mitgliedsstaaten schon Begehrlichkeiten hin zu neuen
       Überwachungsinstrumenten geäußert.
       
       Auch Joachim Türk, Vizepräsident des Kinderschutzbundes, bewertet die
       Einigung positiv: „Der Kompromiss stimmt uns optimistisch sowohl für den
       Kampf gegen sexualisierte Gewalt als auch für den Schutz des Rechts auf
       vertrauliche Kommunikation und informationelle Selbstbestimmung.“ Auch der
       Schutz vor anlassloser Überwachung gehöre zu den Rechten von Kindern. Türk
       hebt unter anderem die Pflicht zum Löschen von illegalem Material hervor
       und das Scannen von im Netz verfügbaren Inhalten auf einschlägige Bilder.
       
       Doch an den im jüngsten Entwurf verbliebenen Scan-Pflichten gibt es auch
       Kritik – etwa vom CCC und vom Verein Digitale Gesellschaft. Dessen
       Co-Leiter, der Rechtsanwalt Tom Jennissen, kritisiert, dass bei der
       Entdeckung unbekannten Materials künstliche Intelligenz (KI) genutzt werden
       solle. Diese müsse wiederum mit Darstellungen sexualisierter Gewalt an
       Kindern sowie harmlosen Bildern trainiert werden – und das ohne Zustimmung
       der Betroffenen. „Der europäische Gesetzgeber scheint weiterhin dem KI-Hype
       und den Versprechungen vermeintlich einfacher technischer Lösungen für
       komplexe soziale Probleme aufzusitzen“, so Jennissen.
       
       Wird die Position am Dienstag erwartungsgemäß bestätigt, steht als nächster
       großer Schritt die Abstimmung des Rates der Mitgliedsstaaten zu seiner
       Position an, die vermutlich im Dezember stattfindet. Erst dann geht es in
       die Trilog-Verhandlungen zwischen EU-Parlament, Kommission und Rat.
       
       Wahrscheinlich ist, dass diese erst nach der Europawahl im kommenden Jahr
       starten werden. Türk vom Kinderschutzbund appelliert an die
       Bundesregierung, die Parlamentsposition mitzutragen. Dass sie das tut, ist
       keineswegs ausgemacht: Zwischen Innen- und Justizministerium gibt es
       [3][bislang keine Einigung] darüber, wie viel Überwachung erlaubt sein
       soll.
       
       13 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Jurist-ueber-WhatsApp-Ueberwachung/!5841468
   DIR [2] /Digitalausschuss-zu-Ueberwachungsplaenen/!5915998
   DIR [3] /Massenueberwachung-im-Netz/!5963136
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Svenja Bergt
       
       ## TAGS
       
   DIR Datenschutz
   DIR Schwerpunkt Überwachung
   DIR Europäische Kommission
   DIR EU-Politik
   DIR CCC-Kongress
   DIR Datenschutz
   DIR Schwerpunkt Überwachung
   DIR Datenschutz
   DIR Bundesamt für Verfassungsschutz
   DIR EU-Parlament
   DIR Datenschutz
   DIR Cem Özdemir
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Der CCC 2024 in Hamburg: Digitaler Widerstand
       
       Beim Chaos Communication Congress treffen sich ab 27. Dezember Wissen,
       Politik und Solidarität. Ein Fest – nicht nur für alle, die gerne hacken.
       
   DIR Bericht des Datenschutzbeauftragten: Warnung vor Stigmatisierung
       
       Der Datenschutzbeauftragte Ulrich Kelber mahnt, beim Thema KI auf
       Grundrechte zu achten. In seinem Bericht steckt auch Kritik an der
       Ampelkoalition.
       
   DIR Geplante Überwachungsgesamtrechnung: Ein Barometer für die Freiheit
       
       Die Bundesregierung will eine „Überwachungsgesamtrechnung“ aufstellen
       lassen. So sollen Freiheit und Grundrechte besser geschützt werden.
       
   DIR EuGH zu Schadenersatz bei Datenleaks: Geld für Angst
       
       Bereits bei einem möglichen Missbrauch persönlicher Daten können Betroffene
       Schadenersatz einklagen. Das hat der Europäische Gerichtshofs entschieden.
       
   DIR Geheimdienste mit neuer Rechtsgrundlage: Reform in letzter Minute
       
       Karlsruhe verordnet eine Reform des Nachrichtendienstrechts. Die Ampel
       kommt dem nach – und kritisiert die Innenministerin.
       
   DIR EU-Parlament zur künstlichen Intelligenz: Der KI Grenzen setzen
       
       Am Mittwoch möchte das EU-Parlament über die weltweit bislang umfassendste
       Regulierung von KI abstimmen. Expert:innen fordern schon
       Nachbesserungen.
       
   DIR Bericht des Bundesdatenschützers: Schlechtes Zeugnis für Digitales
       
       Chatkontrolle oder Social-Media-Auftritte: Deutschlands oberster
       Datenschützer hat jede Menge Rüffel und gute Ratschläge für die
       Bundesregierung.
       
   DIR Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel: Süßes kriegt Saures – könnte wirken
       
       Experten verwerfen zentrale Einwände gegen Werbeverbote etwa für
       Süßigkeiten. Solche Einschränkungen könnten zu einer besseren Ernährung
       beitragen.