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       # taz.de -- Unruhen in Kasachstan: Schießbefehl in Almaty
       
       > Kasachstans Regierung geht weiter drastisch gegen Demonstranten vor. In
       > Belarus, Kirgisien und Armenien regt sich Protest gegen den
       > Militäreinsatz.
       
   IMG Bild: Auslöser der Proteste: die Preiserhöhung von Flüssiggas. Almaty am 9. Januar
       
       Die Regierung in Kasachstan spricht von einer „Normalisierung der Lage“,
       doch die Realität sieht anders aus. Auch in der Nacht zum Sonntag schossen
       Sicherheitskräfte wieder auf Demonstrationen. Seit einem entsprechenden
       Befehl von Präsident Kassim-Schomart Tojakow vom vergangenen Freitag dürfen
       sie ohne Vorwarnung von der Waffe Gebrauch machen. Im Netz zirkulieren
       Videos: Auf den Bildern sind Leichen zu sehen, die auf den Straßen liegen
       oder in ihren Autos verbrannt sind. Unter den Opfern sollen auch ein
       vierjähriges Mädchen und ein zweijähriger Junge sein.
       
       Vor Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen. Hunderte versuchten, ihr
       Geld bei den Banken abzuheben. Die Geschäfte sind geschlossen. In einem
       Video ist zu sehen, wie eine Bäckerei in Almaty kostenlos Brot an die
       Wartenden verteilt.
       
       Seit Anfang Januar wird die zentralasiatische Republik landesweit von
       gewalttätigen Protesten erschüttert. Diese waren von einer massiven
       Preiserhöhung für Flüssiggas ausgelöst worden und hatten ihren Anfang in
       der Ölförderstadt Schanaozen genommen. Am Sonntag teilte das kasachische
       Gesundheitsministerium laut der Nachrichtenagentur Sputnik Kasachstan mit,
       dass 164 Menschen getötet worden seien – allein 103 davon in der
       Wirtschaftsmetropole und größten Stadt Almaty. Mehr als 2.200 Personen
       sollen verletzt worden sein.
       
       Insgesamt seien rund 5.800 Menschen festgenommen worden, darunter auch
       ausländische Staatsbürger, teilte die Regierung am Sonntag mit. Den
       Beschuldigten, die offiziell als „Terroristen“ bezeichnet werden, könnte
       eine lebenslange Freiheitsstrafe drohen. Doch sogenannte Säuberungen finden
       auch im Staatsapparat statt.
       
       ## Der Konflikt hinter dem Protest
       
       Am Samstag entließ Tokajew den stellvertretenden Sekretär des
       einflussreichen Sicherheitsrates, Asamat Abdymomunow. Zuvor hatte Tokajew
       bereits den früheren Geheimdienstchef Karim Massimow unter dem Vorwurf des
       Hochverrats festnehmen lassen. „Es sieht so aus, dass Massimow und seine
       Leute angeklagt werden, den Aufstand angezettelt oder sogar organisiert zu
       haben.
       
       Parallel zu der Niederschlagung der Proteste ist ein interner Umsturz im
       Gange, der Tokajew von der Vormundschaft des früheren Präsidenten Nursultan
       Nazabajew samt dessen Familie und Verbündeten befreit“, schrieb
       [1][Alexander Baunow, Experte beim Moskauer Carnegie Center, auf Twitter].
       
       Am Donnerstag waren [2][erste Truppenverbände der Organisation des
       Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS)] in Kasachstan eingetroffen,
       nachdem Tokajew um eine Unterstützung beim Kampf gegen „Kriminalität und
       Terrorismus“ gebeten hatte. Dem Bündnis gehören neben Russland und
       Kasachstan auch Armenien, Belarus, Tadschikistan und Kirgistan an.
       
       Aktuell sind 2.700 Soldaten an der „Friedensmission“ beteiligt, Russland
       stellt mit 2.000 Soldaten das größte Kontingent. Welche Aufgaben die
       OVKS-Kräfte unter Moskauer Führung in Kasachstan haben, ist derzeit unklar.
       Offiziell heißt es, das OVKS-Militär solle vor allem Flughäfen,
       Botschaften, Kraftwerke sowie andere wichtige strategische Gebäude sichern.
       
       ## Sicherheitskräfte am Pranger
       
       Derweil regt sich auch in den OVKS-Mitgliedstaaten Unmut über die
       brüderliche Hilfe für Kasachstan. Der bekannteste belarussische
       Telegramkanal „Nexta“, der eines der wichtigsten Instrumente bei der
       Mobilisierung für die Straßenproteste 2020/21 in Minsk war, ist wieder
       aktiv. Damals [3][hackten „Cyber-Partisanen“] die Datenbanken von
       Zehntausenden Sicherheitskräften und stellten deren Namen, Geburtsdaten und
       Adressen ins Netz.
       
       Jetzt wollen sie die belarussischen Soldaten identifizieren, die sich an
       dieser „schändlichen Intervention in Kasachstan“ beteiligen. In
       Fernsehbeiträgen sind die Gesichter der Militärs zu erkennen. Machthaber
       Alexander Lukaschenko hatte 300 belarussische Soldaten nach Kasachstan
       geschickt.
       
       In der kirgisischen Hausstadt Bischkek demonstrierten Menschen vor dem
       Parlamentsgebäude. Die Mottos lauten: „Keine Einmischung in die
       Innenpolitik des Nachbarlandes“ und „Stoppt die Aggression in Kasachstan“.
       Die Demonstranten forderten auch den Austritt Kirgistans aus der OVKS.
       Viele Kirgisen meldeten sich in den sozialen Medien zu Wort – als
       Unterstützung und aus Solidarität gegenüber dem „brüderlichen kasachischen
       Volk“.
       
       Auch in Armenien, das 100 Soldaten entsandt hat, stößt die Militäraktion
       auf Kritik in der Bevölkerung. Ein Hilfsersuchen Jerewans an die OVKS
       sowohl während des jüngsten Krieges gegen Aserbaidschan im November 2020
       als auch danach, als aserbaidschanische Truppen die Staatsgrenze zu
       Armenien im Süden überschritten und 3,5 Kilometer auf armenisches Gebiet
       vorgerückt waren, war negativ beschieden worden.
       
       Im November 2021 hatte Tokajew dem aserbaidschanischen Autokraten Ilham
       Alijew zum Jahrestag des Sieges gegen Armenien gratuliert. „Das ist reine
       Willkür des Kremls“, sagt der armenische Menschenrechtler Levon Barseghjan.
       Er kritisiert, dass die armenische Regierung ihre Entscheidungen unter dem
       Druck Moskau treffe, auch wenn sie selbst dagegen sei.
       
       9 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/baunov/status/1479798905562968064?s=20
   DIR [2] /Unruhen-in-Kasachstan/!5823793
   DIR [3] /IT-Protest-in-Belarus/!5714016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tigran Petrosyan
       
       ## TAGS
       
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