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       # taz.de -- Unterdrückung in Russland: Protest zwischen den Nudelpackungen
       
       > Auf das Hochhalten von Tolstois „Krieg und Frieden“ folgt Anzeige, bei
       > offener Kritik am Krieg droht Haft. In Russland verschärft sich die
       > Repression.
       
   IMG Bild: Das „Ja zum Frieden“ wird übermalt: Sankt Petersburg am 18. März 2022
       
       Moskau taz | „Perekrjostok“ heißt Kreuzung auf Russisch. Supermärkte quer
       durch Russland tragen diesen Namen. Sie sind nicht teuer, nicht billig und
       finden sich an vielen Ecken russischer Städte. Weiß sind die Preisschilder,
       manchmal auch gelb, wenn die Waren reduziert sind. An einem Abend im März
       fanden sich in einem Perekrjostok in Sankt Petersburg statt Preisschildern
       kleine Handzettel – über den Krieg in der Ukraine. Über den Beschuss des
       Theaters in Mariupol und den Tod von Zivilist*innen. Es war ein Protest
       zwischen Buchweizen und Nudelpackungen. Kaum sichtbar und doch offenbar so
       wirkungsvoll, dass Ermittler*innen der Sankt Petersburger Polizei eine
       Soko einrichteten, um die „Übeltäterin“ wochenlang zu suchen.
       
       Alexandra Skotschilenko, eine junge Künstlerin und Aktivistin, hatte die
       Preisschilder ausgetauscht. Seit einigen Tagen sitzt die Petersburgerin in
       Untersuchungshaft, ihr drohen bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe – wegen
       „öffentlicher Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die
       Handlungen der russischen Streitkräfte“. Es ist einer von mittlerweile 38
       Straffällen, in denen wegen des neuen, erst im März eingeführten
       Zensurgesetzes ermittelt wird. Rund 1.300 Menschen in Russland bekamen
       wegen der „Diskreditierung der Armee“ bereits Ordnungsstrafen.
       
       Der Angriffskrieg gegen die Ukraine muss in Russland „militärische
       Spezialoperation“ genannt werden. Was im Nachbarland passiert, wird
       verklärt und verleugnet. Alle, die sich nicht an der [1][staatlich
       verordneten Verherrlichung] beteiligen und das auch noch öffentlich
       kundtun, gelten dagegen als Verräter, von denen Russland „gesäubert“ werden
       müsse, wie der russische Präsident Wladimir Putin vor einigen Wochen
       erklärte.
       
       Das [2][Leben vieler wird unerträglich]. Die einen gehen ins Exil, die
       anderen wehren sich, indem sie grüne Bändchen als Zeichen des Protests an
       Bäume in den städtischen Parks hängen. Einem Mann, der das Buch „Krieg und
       Frieden“ von Leo Tolstoi an der Kreml-Mauer hochhielt, drohen 20.000 Rubel
       (etwa 250 Euro) Strafzahlung.
       
       ## Telefonate über die Ukraine sind schon verdächtig
       
       Laut Richterin hat auch Alexandra Skotschilenko mit dem Austauschen der
       Preisschilder eine „schwerwiegende Handlung gegen die öffentliche Ordnung“
       begangen. Die 31-Jährige habe zudem auch noch eine nahe Verwandte in
       Frankreich und Freunde in der Ukraine, heißt es in der Anklage. Die
       Vorwürfe sind absurd, zeigen aber die Haltung des Regimes, dass jeder
       Andersdenkende als „Fremder“ und „von außen Beeinflusster“ zerstört werden
       müsse.
       
       Das Hinterfragen offizieller Positionen wird kaum noch geduldet. Selbst mit
       Unterhaltungen am Telefon über den Krieg in der Ukraine machen die Menschen
       sich verdächtig. Schüler*innen denunzieren ihre Lehrer*innen,
       Supermarktbesucher*innen andere Supermarktbesucher*innen.
       
       Der prominenteste – und politischste – Fall der neuen Gesetzgebung betrifft
       eine bekannte Figur der russischen Opposition: Wladimir Kara-Mursa. Der
       40-Jährige koordinierte seit den 2000er Jahren im Hintergrund
       oppositionelle Gruppen und lobbyierte für deren Anliegen im Ausland.
       Jahrelang setzte er sich außerdem in Europa und den USA für Sanktionen
       gegen russische Funktionäre ein. Er arbeitete an der Seite des vergifteten
       und [3][inhaftierten Oppositionspolitikers Alexei Nawalny].
       
       Auch er selbst wurde zweimal vergiftet, und zwar von derselben Gruppe des
       russischen Geheimdienstes wie auch Nawalny, wie russische und
       internationale Recherchen im Nachhinein zeigten. Er überlebte die
       schweren Anschläge. Seine Frau und Kinder leben aus Sicherheitsgründen im
       Ausland, Kara-Mursa pendelte immer wieder zwischen den USA und Russland.
       Bis vor knapp zwei Wochen. Seitdem sitzt er in Haft. Ihm wird ein Auftritt
       vor den Abgeordneten im Repräsentantenhaus in Arizona vorgeworfen. Dabei
       soll er „Falschnachrichten“ verbreitet und „politischen Hass“ gesät haben.
       
       ## Überall „ausländische Agenten“
       
       Die Zensurgesetze sind den Behörden allerdings nicht genug. Nun soll die
       Generalstaatsanwaltschaft auch das Recht bekommen, Redaktionen die Lizenz
       und Journalist*innen die Akkreditierung zu entziehen. Selbst Büros
       ausländischer Medien sollen sie dann ohne richterlichen Beschluss schließen
       dürfen.
       
       Zum „ausländischen Agenten“ kann zudem jeder werden, der „von außen
       beeinflusst“ werde. Worin diese „Beeinflussung“ besteht, wird nicht
       erklärt. Auch Verwandte eines „Agenten“ können gebrandmarkt werden, die
       Sippenhaft kehrt damit offiziell zurück. Firmen und Ausländer*innen
       können ebenfalls zu „Agenten“ werden. Der Nachweis ausländischer
       Finanzierung, wie das schwammig formulierte Gesetz bislang gefordert hatte,
       fällt weg. Damit wird die Hetzjagd auf kritische Geister noch leichter.
       
       27 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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